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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1902)
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Batka, Richard: Papierne Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0027

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Vapierns Musik.

Neulich blätterte ich im Klavierauszuge der Oper „Das Glück" von
Prochäzka, worin auf das Zauberwort einer gütigen Fee mit einem Mal
die holden Stimmen des Waldes erklingen sollen. Gleich zu Beginn
aber dieses idyllischen Tonsatzes teilt uns eine Fußnote philologisch ge-
wissenhaft mit, der Komponist habe seine Vogelrufe einem Aufsatz über
Vogelstimmen entnommen, der in dem so und so vielten Jahrgange einer
gewissen Musikzeitung erschienen sei. Also: er ist nicht selbst hinaus-
gegangen in den Wald und hat die dort gewonnenen Eindrücke dann
zu einem Stimmungsbilde gestaltet, sondern er hat sich seine Motive
„aus dem Büchel" geholt. Seine Schilderung der lieblichen Waldmusik
ist nicht dem Leben abgelauscht, sondern am Schreibtisch, bei der Lampe
von Papier zu Papier gebracht worden.

Was ich hier als einen drastischen Fall ansühre, bildet keine bloße
Ausnahme. Es bietet mir nur den ausfälligen Anhaltspunkt, einen
weitverbreiteten Mangel bei unsern Musikern festzustellen und den
Wunsch zu äußern, daß hier wenigstens durch Selbsterziehung Wandel
geschasst werde. Die Zeiten sind doch wohl lüngst vorüber, wo der
Dichter, indem er irgend ein klassisches Muster besolgte, mit angelesenen
Gedanken und Empsindungen Einsluß aus die Nation gewinnen wollte.
Selbstgeschautes, Selbstdurchgefühltes verlangen wir von ihm. Und den
jungen Maler lassen wir nicht etwa bloß in Bildergalerieen hocken,
wir schicken ihn mit seinem Skizzenbuch ins Freie, ins Leben, ins Sein
hinaus. Nur bei dem Bildungsgange des Musikers ist dergleichen nicht
oorgesehen, weil man fälschlich meint, die Natur, das Leben bilde keinen
Nährquell seiner Phantasie, es könne ja seine Fertigkeit in Kontrapunkt
und Harmonie nicht fördern. Man oerweist ihn immer nur auf die
kunstmäßig gebrauchten Jnstrumente, aus die Eindrücke, wie sie in den
geschlossenen Räumen des Theaters, des Konzertsaals, des Musikzimmers
zustande kommen. Freilust-Musik ist verpönt, gilt als pöbelhaft, wird
nicht ernst genommen. Was Wunder, wenn der einseitig in seiner
Stubenatmosphäre herangebildete Konservatorist mit tauben Ohren an
den tausend lauten oder leisen Klangphänomenen vorübergeht, die das
Leben, die Natur erzeugt, wenn sich in ihm die Fähigkeit verkümmert,
sie zu belauschen, wenn er der unmittelbaren Hörkenntnisse ermangelt
und die Stimmen des Lebens nur aus ihren vom Geiste des Ton-
meisters bereits umgeprägten Abbildern in der Kunstmusik kennen lernt?
Daher das viele Formelhaste, Phraseologische, Lebensfremde in unserer
Musik. Viele Komponisten könnte man mit jenen großstädtischen Schul-
kindern vergleichen, die in ihren Stilübungen von Bergen, Nachtigallen,
Almen und Sonnenausgängen reden, ohne diese Herrlichkeiten je selbst
gesehen oder gehört zu haben. Wo aber die rechte Anschauung sehlt,
da stellt die Phrase zur rechten Zeit sich ein.

Jn der Tat macht sich der Mangel an deutlichen Erinnerungs-
bildern aus der Klangwelt gerade beim Musiker in erschreckender Weise
immer mehr bemerkbar. Dem alten Mönch Notker in St. Gallen gab
das Rauschen eines Mühlrads den Refrain einer Sequenz ein, und auch
Franz Schubert hat, wie jedermann weiß, dieses Geräusch in seinen
Müllerliedern musikalisch nachgebildet. Beide waren gute Beobachter,

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