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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 3 (1. Novemberheft)
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Lehmann, Alfred: Jenseits von Schön und Hässlich: Randbemerkung zu einer neuen Kunstlehre
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0182

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haupten, der Sinn für die Schönheit der Natur habe sich erst am An-
blick der Kunst, nicht umgekehrt gebildet, ja im Grnnde genommen sei
„die ganze Natur, soweit sie nicht sinnlich genossen oder praktisch geschätzt
wird, schön eigentlich nur aus Künstlers Gnaden." (Das Wesen der
Kunst, II, 375.)

Wenn man die Besucher der Galerieen und Kunstausstellungen be-
obachtet, wenn man vor der Schaubühne ihr Urteil hört oder im Salon
ihr Sprüchlein zu einem neuen Bauwerk, einem modernen Möbel, einem
Roman oder Gedicht, so wird man die Predigt von der Gassenweisheit,
daß schön und häßlich, vom Kunstwerk empsangen, durch unsere cigenen
Zeugungsorgane geboren werden und daß es etwas gibt, das jenseits
von beiden gelegen ist, sür nicht so ganz überslüssig halten. Es würe doch
wohl schon viel gewonnen, wenn die voreiligen Kritiker erkennen wollten,
daß sie uns mit ihrem Kunsturteil einen Blick in die geheimsten Tiesen
— oder Untiesen — ihres Jnnern eröffnen, und wenn zum andern das
große Publikum zu der Einsicht gelangte, daß nicht ein jcdes Kunstwerk
sich mit einem „reizend" oder „scheußlich" erschöpsen läßt. Davon sind
wir aber heute noch weit entfernt. Viel Tinte wird noch in die Federn
sließen müssen, bis der Tag der Erlösung kommt und mit ihm eine neue
Bewertung der Künste, — es sei denn, daß ein Prophet unter uns er-
stehe, der gewaltig rede und nicht wie die Schriftgelehrten, dessen Worte,
um mit Zarathustra zu sprechen, dem Tauwinde gleich das Eis der
Ströme brechen und morsche Stege, und Winterschläsern und Osenhockern
beweisen, daß unter der Hülle der Erscheinungen alles, alles in ewigem
Flusse ist. Dann wird auch die Lehre von der Relativität von Schön
und Häßlich und die Verneinung ihrer Zweiherrschast zu den „allgemein
und lüngst bekannten Wahrheiten" gerechnet werden, — bis auch ihr
in der Zeitlichkeit errichtetes Gebäude abermals versinken und vergessen
werden wird. Alfred Lehmann.

^sse Mätter.

)?U8 KiccaräL IjuckZ )7eben88ki22en „Ius «Ler ^riunnpbgas^e".

Vorbemerkung. Die solgenden Bruchstücke solleu unsre Leser auf ein
sehr eigentümliches Buch aufmerksam machen, auf die kürzlich bei Diederichs
in Leipzig erschienenen „Lebensskizzen" von Riccarda Huch „Aus der Triumph-
gasse". Jn der sogenannten „Römerstadt", dem elendesten Viertel einer alten
süditalienischen Stadt, besitzt ein an Geist und Herz gebildeter wohlhabender
Mann ein altes Haus, und das gibt ihm Gelegenheit, das Volk dort
herum kennen zu lernen. Nun läßt er, nun läßt die Dichterin zwanglos Bilder
und Gestalten aus dieser kleinen Welt der Armut, Entartung, der Selbsterhebung
und wieder der'Unterdrücktheit, der Fäulnis und der Sünde an uns vorüber-
ziehen, ruhig berichtend und doch so eindringlich, daß wir in die matten oder
sengenden Augen selber zu blicken glauben. Ein Kind unsrer Zeit, die schroffste
soziale Gegensätze nicht nur enthält, sondern ihrer auch bewußt ist, sucht er sich
mit ihren heißen Fragen auseinanderzusetzen, aber seine tiefe Selbstehrlichkeit,
die Erkenntnis des Unvsrmögens, auf die Dauer zu helfen, und auch wieder
seine Abhängigkeit von der Welt, die nun einmal seine Welt ist, lassen das Buch
mit bitterm Verzichte enden. Daß unste Stimmung bei alledem Wehmut und
nicht Ekel ist, liegt nicht zum geringsten an dem im besten Sinn weiblichen Takt

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Runstwart
 
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