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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 3 (1. Novemberheft)
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Lehmann, Alfred: Jenseits von Schön und Hässlich: Randbemerkung zu einer neuen Kunstlehre
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0179

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nähert, erregt Wohlgefallen, ^— und dann nennen wir es „schön." Und
dann rollt der Erisapfel weiter, und wohin er kommt, da entsteht eine
neue Theorie in unabsehbarer Folge von Aristoteles bis auf die Neuesten.
Schön ist, was in der Natur und in den je und je gebildeten Kunst-
werken allgemeinen Beifall stndet. Nur das ist schön, was mit
uninteressierter Lust gefällt. Schönheit ist die Erscheinung des
Göttlichen in begrenzter Form. Schön ist ein Ding, wenn es die
objektive ästhetische Betrachtung erleichtert, womöglich sie erzwingt und
den Willen beruhigt. Nein, juft im Gegenteil, wenn es den Willen
und das Jnteresse erregt, wenn es uns andeutend etwas zeigt, was
wir bisher noch nicht empfunden, nach dem wir uns aber unbewustt ge-
sehnt haben, — nns prow688S cto dontwnr! Und wieder: Schönheit
ist, wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und unter-
gehen will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe. Und weiter: schön ist,
was zweckmäßig ift, ohne daß sich in mir die Vorstellung des Zweckes
bildet. Schönheit ift Harmonie. Jst Ausdruck. Jst der Mangel
alles Ueberflüssigen. Uo b>6an o'68t 1o vrai. Schön ist, was
deine Köchin instinktmäßig für häßlich erklärt. Etwas Schönes, das ift
— was großartig ift, und weit, weit weg von hier. Das Kunstschöne
(man beachte, daß diese Definition das Naturschöne ausschließt) ist der
Komplex aller Eigenschaften des von Menschen Geschaffenen oder mit
seinem Körper Produzierten, die ein ästhetisches Vergnügen ge-
währen. — Ach was, schön! — um mit einem burschikosen Werkstatt-
wort des Dichter-Malers der „Gefilde der Seeligen" zu fchließen: „Ein
Ding an seinem rechten Fleck ist schön"!

Man laffe eine Anzahl der verschiedenartigsten „schönen" Kunst-
werke kinematisch an seinem Geiste vorüberziehen, und man wird sogleich
erkennen, daß keinem dieser Aussprüche, soweit sie überhaupt ernst ge-
meint sind, das Recht auf Allgemeingültigkeit zufteht. Jgnoramus, das
ift der Weisheit letzter Schluß, als welchen ihn bereits der bescheidene
Albrecht Dürer bezeichnet hatte.

Wenn wir den Schönheitsbegriff nicht genau bestimmen können,
werden wir dem seines Gegensüßlers ebensowenig beizukommen vermögen.
Nicht einmal die Grenzgebiete beider sind uns bekannt. Schön und häß-
lich, — das Königswafser ift noch nicht bereitet, das reinlich diese Be-
griffe von einander trennt. Die alte Aesthetik konnt' es nicht finden,
da fie, ausschließlich an Form und Jnhalt des Kunstwerkcs experimen-
tierend, einen wichtigen Faktor übersah: die tausendfältige Empfindung
derer, die das künstlerische Objekt genoffen und beurteilten, und in der
Retorte der neuen Aefthetik kann es ebensowenig gebraut werden, da
den Modernen die von ihren Vorgängern übersehene Größe selber ein
Buch mit sieben Siegeln ist: die menschlich-indioiduelle Vorftel-
lung. Gerade hier jedoch und nirgend sonstwo ist der gebärende Schotz
der Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit, der Mutterboden, in welchen
die sinnlich wahrgenommenen Dinge ihre Zeugungskraft niederlegen. Jhm
füllt das Gestalten, Ausreifen und Vollenden zu. Da wir nun von
der Natur des empfangenden Organs, das ift von dem Bewußtseins-
inhalt unseres Nüchsten, nur soviel wifsen, daß sie von der unseren ver-
schieden, ja, daß sie nicht bei zwei lebenden Jndividuen dieselbe ist, fo
müffen wir folgerichtigerweise annehmen, daß auch ihre Erzeugnisse der

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Novemberheft ^902
 
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