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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1902)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0145
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Was für eins! Aber das ist doch
so einfach l Eine Figur in dsr könig-
lich preutzischen Figurenstadt. Je nach
den einkommenden Geldern eine ganze
oder eine halbe.

Aus welchem Material? Jn welcher
Farbe? Was für Fragen! Selbstver-
ständlich eine kreideweitze Marmor-
sigur!

Wo soll sie stehen?

Schleiermacher war Prediger der
Dreifaltigkeitskirche in Berlin. Also:
„der freie Platz vor der Kirche, mit der
sein Name verbunden ist, bietet sich als
der geeignete dar. Möge mitten im
Gewühl der Weltstadt sein Bild mit
den edlen, schönen, durchgeistigten
Zügen Zu uns reden von den höchsten
heiligsten Gütern des Einzelnen, des
Staates und der Kirche."

Jeder Gebildete wird sich mit Recht
üarüber wundern, üah diese Fragen
hier überhaupt erörtert werden, als
wenn dabei irgend etwas sraglich wäre.
Und der Aufruf hat recht, üatz er alles
das Genannte als das Selbstverständ-
liche voraussetzt.

Ein Denkmal setzen ist eine mit Recht
geschätzte Beschäftigung der Gebildeten,
und besteht darin, datz man Aufrufe
verfaht, Gelder fammclt, einsn geeig-
neten frcien Platz aussucht und dann
je nach dem Ausfall der Sammlung
eine ganze, eine halbe oder nur eine
viertels „Figur" aus Marmor in die
Mitte setzt, enthüllt, bedenkredet unü
— des Wegcs geht, um ein neues

Opfer seiner vielseitigen Jnteressen,
kurz seiner Gebildetheit zu suchen.

Eine ältere, minderentwickelte,
mindergebildete Zeit würde heillos ge-
schwankt haben. Und wahrscheinlich
wäre sie auf alles eher verfallen, als auf
die durchgeistigte weiße Puppe auf dem
freien Platze. Stand der Mann in
Beziehung zu einer Kirche, so hätte sie
in ihrem rohen Geschmack wahrscheinlich
zuerst an bunte Bilder in der Kirche
gedacht. Sie war eben in stofflichem
Jnteresse befangen und kannte noch
nicht die ewigen Gesetze der Schönheit,
kurz die Aesthetik. Verfiel sie auf eine
Gestalt, so hätte sie wahrscheinlich diese
Gestalt irgendwo an die Kirche ange-
lehnt oder angebracht, noch wahrschein-
licher innen an eine Säule. Und viel-
leicht hätte sie sie gar noch angemalt.

Aber auch diese Lösungen waren
noch nicht sicher, und jede von ihnen
barg neue Probleme. Die Bilder z.B.
in einer Kirche mit wenig Wandfläche!
Vielleicht gar wäre man auf die
Brüstungen verfallen! Reliesschnitze-
reien, alles mögliche wäre in betracht
gekommen!

So waren die alten, armen, un-
entwickelten Zeiten, die noch nicht durch
eine hohe Geheime Ober-Geschmacks-
Schulung gebildet geworden waren.
Wie glücklich sind dagegen wir, die wir
die Lösung für alle Fälle in grandios
selbstverstündlicher Einfachheit haben:
ein Denkmal besteht je nach dem Gelde
aus einer ganzen, einer halben oder
einer viertels „Figur"!

Unsre Notenbeilage bringt diesmal einige Probcn aus der neuen Oper
„Das war i ch" nach dsm bei Bote L Bock erschienenen Klavierauszuge. Ueber
das Werk selbst wolle der Leser in der Rundschau dieses Heftes nachlesen.
Etwa die grotze Ensembleszene wiederzugeben, wäre lehrreicher gewesen, ging
aber aus Naumgründen nicht an, und so wurden zwei lyrische Enklaven, die
einander entsprechenden Austrittsbilder gewählt, um wenigstens einen Begriff
von der melodiösen und polyphonen Art der Musik im knappen Rahmen geben
zu können. Bemerkt sei, daß die hier vorkommende melodramatische Behand-
lung einiger Textstellen blotz hier im Expositionsteile, stattfindet, um den Ge-
sang als solchen schärser abzuheben und eine Steigerung vom Sprechton zum
Gesangston zu erzielen.

Unsre älteren Leser wissen es längst, aber der neuen wegen dürfen wir's
wohl noch einmal sagen: wir halten Max Klinger sür das stärkste Genie
der deutschen Kunst unsrer Zeit, nicht nur der bildenden, sondern aller. Des-
halb bringen wir immer wieder Reproduktionen nach Werken von ihm, be-
sonders der graphischen, um ihnen so allmählich das Besremdende zu nehmen

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