Die Wagnersche Gesamtkunst ist, wie das Wort n eubegründet schon
andeuten soll, nur die Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit
der Wort-, Ton- und Bildkunst. Wenn Wagner in seinen theoretischen
Schriften diese Einheit als notwendig und fruchtbar in der Hauptsache
gut begründet hat, so scheint'er doch über den Fortschritt nicht ganz
im Klaren gewesen zu sein, den die Wiedervereinigung im Vergleich
mit der ursprünglichen Einheit erzielt hat. Wagner sah ihn einmat in
dcr Vervollkommnung der Ausdrucksmittel, dann in der Vertiefung und
Erweiterung ihres Gehalts über die Grenzen der Nationalität zum
Menschheitswerke. Mag diese Jnternationalität der Wagnerschen Kunst
hier unbestritten bleiben, ihre wertvollste Errungenschaft ist doch wohl
die, daß sie die Einzelkünste zu einem zeitweiligen Zusammenwirken
wieder befähigt, ihnen im Uebrigen aber die Freiheit und das
Recht ihrer Sonderentwickelung gelassen hat. Jch glaube nicht,
daß Wagner das ausdrücklich anerkannt hätte; er schien vielmehr sogar
geneigt, der „absoluten," d. h. der reinen Jnstrumentalmusik und dem
gesprochenen Schauspiel ohne Musik jedes Daseinsrecht abzusprechen.
Wieviel Polemik wäre dem Bayreuther Mcister erspart geblieben, hätte
er stch ausdrücklich gegen diese Auffassung der Dinge verwahrt. Zweisellos
hat die Verschmelzung der Schwesterkünste zu einem einheitlichen Kunst-
werk eine hohe Bedeutung: möglich ist sie aber nur durch die Be-
schränkung einer jeden auf das Wesentliche, die maßvolle Zurückhaltung,
die eine Entfaltung aller Ausdrucksmittel dcr Einzelkunst mit Rücksicht
auf die Gesamtwirkung verbictet. Diese Vereinsachung kann sich jedoch
die Einzelkunst nicht dauernd gcfallen lassen; sie darf und muß vielmehr
neben dcm Zusammenschluß mit der Nachbarkunst ihre Sonderinteressen
verfolgen, da sie doch nun einmal bei aller Gemeinsamkeit in der Haupt-
sache den Entwickclungsgesetzen ihrer besonderen Natur unterliegt.
Diese Analogie soll die Geistesgeschichte vor dem Jrrtum bewahren,
sie dürfe die bisher in den Einzelwissenschaften gehandhabte Methode
geringschätzen und ihre gesonderte Existcnz für die Zukunft bestreiten.
Sie soll nur als eine neue Wissenschaft neben die alten treten, sie
ergänzen, entlastcn und von ihnen lernen. Die Philosophie wird nach wie
vor Metaphysik, Psychologie und Ethik treiben; die Geschichte wird sich
die Beschäftigung mit den politischen Ereignissen nicht nehmen lassen;
die Literatur soll bei ihren Quellenuntersuchungen, ihrer analytischen
und normativen Kritik nicht gestört wcrden. Die Geistesgeschichte soll
aber daneben ihre vorwiegend synthetische Aufgabc erfüllen, sie soll,
vielleicht nicht im Rang, aber doch in der Methode, über den anderen
stehen, auf denen sie sich crbaut und deren Tendenzen sie zusammenfaßt.
Die zweite Analogie zur Geistesgeschichte liefert uns die ver-
gleichende Literaturwissenschaft, die einstweilen mit ihr noch in
gleicher Verdammnis lebt. Oder werden nicht auch gegen sie die Vor-
würfc der Oberflächlichkcit und dcs dilettantischen Theoretisierens laut?
Beschuldigt man nicht auch sie, die älteren Wissenschaften, aus denen
sie sich cntwickelt hat, verdrängen zu wollen? Die Abgrenzung der
Geistesgeschichte gegen die Literaturvergleichung darf, um Mißverstünd-
nissen vorzubeugen, hier nicht übergangen werden. Gemeinsam haben
beide mit der Gesamtkunst im Wagnerschen Sinne die Tendenz
zur Einheit verwandter Bestrebungen in ihren Grundformen. Aber
14S
2. Maiheft tSvz
andeuten soll, nur die Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit
der Wort-, Ton- und Bildkunst. Wenn Wagner in seinen theoretischen
Schriften diese Einheit als notwendig und fruchtbar in der Hauptsache
gut begründet hat, so scheint'er doch über den Fortschritt nicht ganz
im Klaren gewesen zu sein, den die Wiedervereinigung im Vergleich
mit der ursprünglichen Einheit erzielt hat. Wagner sah ihn einmat in
dcr Vervollkommnung der Ausdrucksmittel, dann in der Vertiefung und
Erweiterung ihres Gehalts über die Grenzen der Nationalität zum
Menschheitswerke. Mag diese Jnternationalität der Wagnerschen Kunst
hier unbestritten bleiben, ihre wertvollste Errungenschaft ist doch wohl
die, daß sie die Einzelkünste zu einem zeitweiligen Zusammenwirken
wieder befähigt, ihnen im Uebrigen aber die Freiheit und das
Recht ihrer Sonderentwickelung gelassen hat. Jch glaube nicht,
daß Wagner das ausdrücklich anerkannt hätte; er schien vielmehr sogar
geneigt, der „absoluten," d. h. der reinen Jnstrumentalmusik und dem
gesprochenen Schauspiel ohne Musik jedes Daseinsrecht abzusprechen.
Wieviel Polemik wäre dem Bayreuther Mcister erspart geblieben, hätte
er stch ausdrücklich gegen diese Auffassung der Dinge verwahrt. Zweisellos
hat die Verschmelzung der Schwesterkünste zu einem einheitlichen Kunst-
werk eine hohe Bedeutung: möglich ist sie aber nur durch die Be-
schränkung einer jeden auf das Wesentliche, die maßvolle Zurückhaltung,
die eine Entfaltung aller Ausdrucksmittel dcr Einzelkunst mit Rücksicht
auf die Gesamtwirkung verbictet. Diese Vereinsachung kann sich jedoch
die Einzelkunst nicht dauernd gcfallen lassen; sie darf und muß vielmehr
neben dcm Zusammenschluß mit der Nachbarkunst ihre Sonderinteressen
verfolgen, da sie doch nun einmal bei aller Gemeinsamkeit in der Haupt-
sache den Entwickclungsgesetzen ihrer besonderen Natur unterliegt.
Diese Analogie soll die Geistesgeschichte vor dem Jrrtum bewahren,
sie dürfe die bisher in den Einzelwissenschaften gehandhabte Methode
geringschätzen und ihre gesonderte Existcnz für die Zukunft bestreiten.
Sie soll nur als eine neue Wissenschaft neben die alten treten, sie
ergänzen, entlastcn und von ihnen lernen. Die Philosophie wird nach wie
vor Metaphysik, Psychologie und Ethik treiben; die Geschichte wird sich
die Beschäftigung mit den politischen Ereignissen nicht nehmen lassen;
die Literatur soll bei ihren Quellenuntersuchungen, ihrer analytischen
und normativen Kritik nicht gestört wcrden. Die Geistesgeschichte soll
aber daneben ihre vorwiegend synthetische Aufgabc erfüllen, sie soll,
vielleicht nicht im Rang, aber doch in der Methode, über den anderen
stehen, auf denen sie sich crbaut und deren Tendenzen sie zusammenfaßt.
Die zweite Analogie zur Geistesgeschichte liefert uns die ver-
gleichende Literaturwissenschaft, die einstweilen mit ihr noch in
gleicher Verdammnis lebt. Oder werden nicht auch gegen sie die Vor-
würfc der Oberflächlichkcit und dcs dilettantischen Theoretisierens laut?
Beschuldigt man nicht auch sie, die älteren Wissenschaften, aus denen
sie sich cntwickelt hat, verdrängen zu wollen? Die Abgrenzung der
Geistesgeschichte gegen die Literaturvergleichung darf, um Mißverstünd-
nissen vorzubeugen, hier nicht übergangen werden. Gemeinsam haben
beide mit der Gesamtkunst im Wagnerschen Sinne die Tendenz
zur Einheit verwandter Bestrebungen in ihren Grundformen. Aber
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