während dieses Zusarnmenwirkenlassen des Verwandten dem Künstler
nur in dem Glücksfalle vielseitiger Begabung möglich ist — Wagner
hat übersehn, daß nicht alle Leute zugleich Dichter, Musiker und
„Szeniker" sein können — ist es dem Vertreter der Literaturvergleichung
und der Geistesgeschichte möglich, durch den Fleiß allein ans Ziel zu
kommen, er ist also in seinem Annäherungsstreben ungleich besser
gestellt. Was nun speziell den Unterschied der Literaturvergleichung
und der Geisteswissenschaft betrifft, so ist jede zugleich enger und weiter
als die andere. Die Literaturoergleichung ist enger, als die Geistes-
geschichte, da sie nur Literaturwissenschaft ist und die Philosophie, die
Geschichte, Musik und bildende Kunst für sie nicht in Betracht kommt.
Sie ist auch weiter als die Geistesgeschichte, denn sie ist inter-
national.
Hier ftoßen wir auf eine Frage, die mir heute noch nicht spruchreif
scheint: ob nämlich die Geistesgeschichte nicht gleichfalls international
sein soll? Bücher wie das Lamprechtsche drängen sie uns unwillkürlich
auf die Lippen. Es wäre da zunächft zu untersuchen, ob das geistige
Leben einer Nation wirklich sich so sehr als ein abgeschlossenes Ganzes
darstellt, daß es mit Nutzen von dem geistigen Gesamtleben der Kultur-
völker in der Darstellung isoliert werdeu kann. Es läßt sich doch ver-
fechten, daß z. B. die politische Geschichte einer Nation viel mehr eine
von außen wenig beeinflußte Einheit bildet, als ihre geistige Geschichte.
Wenigstens gilt das für die moderne Zeit des Juternationalismus; ob
dieser aber nicht auch die politischen Ereignisse im Völkerleben über die
jeweiligen Landesgrenzen hinaus enger mit einander verketten wird, als
es bisher der Fall war? Dann wäre allcrdings die Geistesgeschichte
international, denn wie sollte sie es nicht sein, wenn alle Wissenschaften
es sind, auf denen sie sich auferbaut? Solange wird sie freilich gut
tun, zu warten. Einstweilen würde ein derartiges Unterfangen dic
Kraft eines Mannes übcrsteigen. Hat aber erst einmal der Philosoph,
der Historiker, der Geschichtsschreiber der Künste das ganze Material
unter internationalen Gesichtspunkten ausgebreitet, so wird auch die von
der Geistesgeschichte gewagte Verschmelzung dieses Materials international
sein. Es lohnt sich der Mühe, die in ihr sich vereinigenden Zweige
der Wissenschaft und Kunst einmal auf ihre Jnternationalität zu unter-
suchen. Die Philosophie hat lüngst aufgehört, eine nationale Wissen-
schaft zu sein, menn man von der jeweiligen Gegenwart absieht. Die
Geschichte kennt wie die Literatur eine Vergleichung der Nationen,
die freilich immcr noch mehr ein Aufeinander als ein Mit- und Aus-
einander darstellt und statt des Nachweises fortwährender Wechselwirkung
sich mit einem beziehungsloscn Hintereinanderstellen des Stoffes begnügt.
Musik und bildende Kunst haben durch ihre Unabhängigkeit von
der so manches Zusammengehörige trennenden Sprache früh schon die
nationalen Schranken durchbrochen, und ihre Historiker haben sich dieser
Emanzipation nach Kräften angepaßt. Es ist uuffüllig, daß die Künste
unabhängig von einander die nationalen Begrenzungen überschritten
haben, und daß ihnen dieses Ueberschreiten wichtiger schien als der
Zusammenschluß unter einander gegenüber der Wissenschaft und der
Religion. Wenn wir bis heute noch keine „Kunstgeschichte" haben, die
den Wechselwirkungen der gesamten Kunst gerecht wird, so liegt das
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Rnnstwart
nur in dem Glücksfalle vielseitiger Begabung möglich ist — Wagner
hat übersehn, daß nicht alle Leute zugleich Dichter, Musiker und
„Szeniker" sein können — ist es dem Vertreter der Literaturvergleichung
und der Geistesgeschichte möglich, durch den Fleiß allein ans Ziel zu
kommen, er ist also in seinem Annäherungsstreben ungleich besser
gestellt. Was nun speziell den Unterschied der Literaturvergleichung
und der Geisteswissenschaft betrifft, so ist jede zugleich enger und weiter
als die andere. Die Literaturoergleichung ist enger, als die Geistes-
geschichte, da sie nur Literaturwissenschaft ist und die Philosophie, die
Geschichte, Musik und bildende Kunst für sie nicht in Betracht kommt.
Sie ist auch weiter als die Geistesgeschichte, denn sie ist inter-
national.
Hier ftoßen wir auf eine Frage, die mir heute noch nicht spruchreif
scheint: ob nämlich die Geistesgeschichte nicht gleichfalls international
sein soll? Bücher wie das Lamprechtsche drängen sie uns unwillkürlich
auf die Lippen. Es wäre da zunächft zu untersuchen, ob das geistige
Leben einer Nation wirklich sich so sehr als ein abgeschlossenes Ganzes
darstellt, daß es mit Nutzen von dem geistigen Gesamtleben der Kultur-
völker in der Darstellung isoliert werdeu kann. Es läßt sich doch ver-
fechten, daß z. B. die politische Geschichte einer Nation viel mehr eine
von außen wenig beeinflußte Einheit bildet, als ihre geistige Geschichte.
Wenigstens gilt das für die moderne Zeit des Juternationalismus; ob
dieser aber nicht auch die politischen Ereignisse im Völkerleben über die
jeweiligen Landesgrenzen hinaus enger mit einander verketten wird, als
es bisher der Fall war? Dann wäre allcrdings die Geistesgeschichte
international, denn wie sollte sie es nicht sein, wenn alle Wissenschaften
es sind, auf denen sie sich auferbaut? Solange wird sie freilich gut
tun, zu warten. Einstweilen würde ein derartiges Unterfangen dic
Kraft eines Mannes übcrsteigen. Hat aber erst einmal der Philosoph,
der Historiker, der Geschichtsschreiber der Künste das ganze Material
unter internationalen Gesichtspunkten ausgebreitet, so wird auch die von
der Geistesgeschichte gewagte Verschmelzung dieses Materials international
sein. Es lohnt sich der Mühe, die in ihr sich vereinigenden Zweige
der Wissenschaft und Kunst einmal auf ihre Jnternationalität zu unter-
suchen. Die Philosophie hat lüngst aufgehört, eine nationale Wissen-
schaft zu sein, menn man von der jeweiligen Gegenwart absieht. Die
Geschichte kennt wie die Literatur eine Vergleichung der Nationen,
die freilich immcr noch mehr ein Aufeinander als ein Mit- und Aus-
einander darstellt und statt des Nachweises fortwährender Wechselwirkung
sich mit einem beziehungsloscn Hintereinanderstellen des Stoffes begnügt.
Musik und bildende Kunst haben durch ihre Unabhängigkeit von
der so manches Zusammengehörige trennenden Sprache früh schon die
nationalen Schranken durchbrochen, und ihre Historiker haben sich dieser
Emanzipation nach Kräften angepaßt. Es ist uuffüllig, daß die Künste
unabhängig von einander die nationalen Begrenzungen überschritten
haben, und daß ihnen dieses Ueberschreiten wichtiger schien als der
Zusammenschluß unter einander gegenüber der Wissenschaft und der
Religion. Wenn wir bis heute noch keine „Kunstgeschichte" haben, die
den Wechselwirkungen der gesamten Kunst gerecht wird, so liegt das
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