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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 15 (1. Maiheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0137

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Lose VILtter.

Kus Mlkelnis Spscks „2we! Seelen".

V o r b e m e r k u n g. Wieder ein Erzähler, der eiu Dichtcr ist, wie-
der ein Buch, das wir von Herzen empfehlen können! Unsre Leser werden
gut tun, auf den heute noch unbekannten Namen Wilhelm Speck in
ZuUinft zu achten.

Die bei Grunow in Leipzig erschienene Erzählung „Zwei Seelen"
beginnt seltsam genug. „Dreißig Jahre alt und schon sertig mit dem
Leben", fertig — hinter Kerkerwänden. Der junge Verbrecher ist, wir
ahnen's mehr, als daß wir's gesagt bekommen, uuheilbar krank. Da hat
man ihm erlaubt, aufzuschreiben, was er mag, und nun schreibt er seine
Lebensgeschichte auf von der Kindheit bis dahin, wo er, lange, lange, nach-
dem er Mörder geworden, sich den Gerichten gestcllt hat.

Er ist eiu Kind armer Leute. Der brave Bater ist Bahnwärter im
Wald, da gibt's einen Unglücksfall, sie ziehen, der Mutter zur Freude,
in die Stadt. Schmale Kost, die Jungen fangen an, sie in fremden Feldern
und Gärten ein wenig aufzubessern. Heinrich witd dann vom Onkel an-
genommen, dem's besser geht, richtiger eigentlich von der Tante, aber die
bekommt dann selbst noch ciu Kind, und da ist's mit der Liebe zu Hein-
rich bei der „süuerlichen" Frau ganz vorbei. Sie hciratct wieder, der
neue Onkel Lüderjahn bcnutzt selber den Jungcn zn nicht mehr zweifcl-
haftem Nebeuerwerb. Genossen dabei sühren ihn zu Schönes richtiger Spitz-
bubenfamilie, mit ihrem gemütlichen Unterricht in Praxis und Theorie.
Bei der Konfirmation will der Bater ihn heimholen, dem Jungcn paßt
dns jetzt nicht mehr, Schöne erst recht nicht, der schickt ihn uach Leipzig,
wo eine alternde arme Dirne ihn für diesmal — rettet. „Geh' zu deinem
Vater!" Aber nun steckt den Juugen die Polizei ein, denn man hat Schönes
derweil ertappt. Man macht's gnädig, vier Wochen. Bier Wochen Unter-
richts also bei Gaunern. Trotzdem, bei einem ehrlichen alten Meister wird
Heinrich ein tüchtiger Schneider. Aber nun taucht Schöne wieder auf, und
eiu dummes Berliebtheitsabenteuer reißt Heinrich zu einer Gewalttat hin. Jm
Lazarett (ihm selbst ist's übel dabei ergangen) imponiert ihm ein Hochstapler,
und der verführt ihn. Dem ist cr verfallcn, wie sehr sich seine Schwachheit
wieder müht, auf den geraden Weg zn kommen. Er liebt cin schlichtes
Mädcheu uud sieht eiu Glück Vvr Augeu, da zermalmt's ihm ein Urteils-
spruch. Füuf Jahre. Jm Gefängnis spornt ihn cin Mitgefangener zur
Flucht, und in einer Christnacht gelingt die Flucht. Aber bcim Herum-
irrcn und Herumhungern crrennt er, daß der Andere ihn nur für scine
Zweckc bcuutzt uud belogcn hat. Jetzt mordet der andre gar — da crmordet
Heinrich ihn. Mit den Papieren eincs gestorbencn Schneiders fährt er unter
falschem Namen als eine verkörperte Lüge wieder in die Welt. Und lebt
brav und ist brav und sieht wiedcr eiu Glück vor sich aufwachsen, diesmal
eiu köstliches, und lächeln und locken. Und weiß doch: er könnt's uicht
ertragen, und geht und verlaugt vom Gerichte, was ihm gebührt.

Für die innere dichterische Kraft dicses Buches ist es ein Zcichcn,
wic wenig ein unbestreitbarer Mangel stört: es ist als Selbstaufzeichnungen
eines uugebildeten armen Schneidergesellcu und doch durchweg iu der Aus-
drucksweise eines hochgebildeten Mannes geschrieben, abcr wenigstens mir
ist dieser Widerspruch durchaus nur als Reflexion zum Bewußtsein gekommcn,

t08

Aunstwart
 
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