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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 19 (1. Juliheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Anschaulichkeit und seelischer Gehalt
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0346

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Inscdaulicdlreit unä seeliscker Gedalt.

Wir haben nculich von „Sehen und Schauen", dann von „Phan-
tasiekunst" gesprochen, sragen wir heut: ivas ist dichterische An-
schaulichkeit? Fragen wir's ohne jede Rücksicht darauf, ob man
uns als die schulmeisterlichsten aller Schulmeister verschreie: nach in
Pedantenkreisen hartnäckig wiederholten Gerüchten soll das klare Denken
auch sein Gutes haben. Was in den letzten Monaten in Zeit- und
Streitschriftcn über diese Fragen zutage trat, es bewies: wir müssen
uns über diese Grundlagen noch weiter aussprechen, sollen nicht bei
allem Reden und Schreiben über Kunst die höheren Stockwerke der Ver-
ständigung nur auf gebrechlichen Not- und Hilfskonstruktionen ruhn.
Und gehen wir jetzt so hausbacken nüchtern vor, wie's beim Bodenaus-
schachten und Pfahleinrammen immer hergehen sollte! Mit der Zeit
kommen wir schon höher hinauf.

Ju einem Aufsatze über Jngenieurtätigkeit fand ich neulich nach
dcr Bemerkung, daß das technische Schaffen in der Anschauung wurzle,
die Bestimmung des Begriffes „Anschanung" als „die Fähigkcit, kör-
perlich plastisch zu sehen". Das geringe Verständnis des Publiknms
für die Jngenieurtätigkeit wurde aus den allgemeinen INangel an
„Anschauung" in diesem Sinne zurückgeführt. „Auschauuug", hieß es
weiter, „lehrt denken, kombinieren, überlegen, zerteilen, zusammen-
fassen, fast jede praktische Lebensäußerung ist auf Anschauung ge-
gründet. Der moderne Mensch muß wie Cäsar vieles zu gleicher Zeit
tun können, und dazu braucht er Anschauung. Das heutige Erwerbs-
leben, das oft eine Fülle von Eindrücken im Augenblick heranwülzt,
die im nächsten Moment schon wieder nutzbringend weitergegeben sein
müssen, ist ganz auf der Fähigkeit des Geistig-Schauens gegründet,
nnd man kann Menschen für ihre praktischen Lebensbedürfnisse nicht
besser vvrbilden, als durch Ausbildung ihrer Anschauung." Wir stim-
men dem Verfasser bei; auch hier ist ein Punkt, wo sich die For-
derungen der künstlerischen Bildnng mit all den andern berühren,
die eine lebend grünende Kultur statt eines Kultur-Herbariums wün-
.schen. Sein Begriff ist der allgemeinste von Anschauung. Das

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