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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 17,2.1904

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Heft 18 (2. Juniheft 1904)
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S., E.: Die Wurzeln des Schönen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7886#0297

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vie Murreln cles 8ekönen.

Die früher so geläufige und beliebte Frage nach dem Wesen des
Schönen wird von der neueren psgchologischen Aesthetik eigentlich kaum
noch gestellt; mit um so größerem Nachdruck hingegen die Frage nach
seiner Erscheinungsform und ihren Gesetzen. Einige Verse, in wohl be-
messenem Zusammenhange gepaart, entzücken uns, der Anblick eines
Gemäldes gewährt uns tiefen Genutz — woraus schöpfen diese schwachen
finnlichen Eindrücke ihre Zauberkraft? Wo ist die Wurzel zu suchen,
aus der das ästhetische Empfinden emportreiben kann? Unzählige Male
ist in Spstemen nach dem goldigen Schmetterling der Schönheit gehascht
worden, bis jetzt hat er sich noch niemals lcbend einfangen lassen.
Sprechen wir heute einmal kurz davon, wie sich die heutige Natur-
wissenschaft zu diesen Problemen stellt, die ja von anderem Stand-
punkt aus selbstverständlich auch anders betrachtet werden können, als
von ihr.

Die psychologische Forschung zeigt, daß selbst die höchsten Wipfel
unseres Gefühlslebens durch niedere Wurzelausläufer mit dem Mutter-
boden der Triebe und Jnstinkte in Verbindung stehen, und datz sie wie
der Riese Antäus gerade aus dieser irdischen Berührung ihre Kraft
immer wieder erneuern. Auf den Jnstinkten und Trieben ruht der
Charakter, und an ihnen ranken die Gemütsbewegungen und Leiden-
schaften empor. Der Selbsterhaltungstrieb hat den menschlichen Geist
in seine Dienste gestellt und mit seiner Hilfe den Erdball unterworfen.
Das Mitgefühl ist die Quelle des sozialen Lebens und der moralischen
Gesittung. Aus dem Spieltrieb (in des Wortes allgemeinster Bedeutung),
der den Ueberschutz an nervöser Aktivität verausgabt und bis in die
höheren Stufen des Tierreiches zurückverfolgt werden kann, entwickelt
sich wie das Bedürfnis nach Körperübungen, der Drang nach Abenteuern,
die Leidenschaft des Hazardspiels so auch ein guter Tcil der ästhetischen
Tätigkeit. So treten denn die modernen Psychologen, in Deutschland
Groos in seinen „Spielen der Tiere", in Frankreich Ribot mit der
„b'sz-oliologis cko8 86ntimsnt8" mit dem Rüstzeug der entwicklungsge-
schichtlichen Methode an die Aesthetik heran. Während sie die niederen
Tiere vollständig in den engen Kreis der lebenserhaltenden Funktionen
gebannt sehen, erkennen sie bei den höheren Stufen des Tierreiches
bereits „eine zwecklose Tätigkeit der Organe", eben das Spiel. Jn
Spielen der Tiere, in zwecklosen, in nicht dem „Kampfe ums Dasein"
dienenden Bewegungen, durch die sich die überschüssige Energie offen-
bart, erkennen sie die primitivsten Formen, dic ersten Anfänge der Kunst.
Schiller hat bereits in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des
Menschengeschlechtes" eine verwandte Ansicht ausgesprochen, und Herbert
Spencer, der fich nicht zu erinnern weiß, bei welchem deutschen Autor
er sie vor Jahren gelesen, hat sie ausführlich erörtert.

Wie dann aber diese „Luxus^-Eigenschaft im Kampfe ums Da-
sein nicht verkümmern, sondern vielmehr zu üppiger Entwickelung ge-
langen konnte, das blieb zunächst eine dunkle Frage. Die Unter-
suchungen von Karl Bücher über „Arbeit und Rhythmus" haben über
sie neuerdings einiges Licht geworfen. Es scheint, datz der Satz Vol-
taires: „Qs 8upsrtln —6I1086 trs8 näos88airs" eine tiefe Wahrheit in

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Aunstwart
 
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