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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 3 (1. Novemberheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0192
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bleiben; sie ist ein nicht mehr ausznscheidender Bestandteil unserer Kultur.
Aber muß sie sich deshalb allgemein bis ins Krankhafte entwickeln und in
dieser Entwicklung verharren? Und mit dem Worte „nervös" verbindet man
den Begriff des Krankseins.

Man erinnere sich hier jenes allgemeinen Gesetzes der Lebcnsentwick-
lung, nach dem ein Geschöpf um so höher organisiert erscheint, je differen-
zierter die Stufenleiter seiner Reizempsindungen ist.

Nun besteht darüber kein Zweifel, daß die sogenannten nervösen Er°
scheinuugen der letzten Menschenalter durchweg auf einer erhöhten und ver-
feinerten Reizempfindung ihrer Träger beruhen. Wir haben im nervösen
Menschen einen entwicklungsgeschichtlich höher entwickelten Typus vor uns.
Freilich, um die Frage zu wiederholen: auch einen krankhaften?

Nervosität ist heute nicht mehr Nervenschwäche. Wenn in diesem Ab-
schnitt die Einwirkung der freien Unternehmung auf die ihrem Wirtschafts-
leben leitcnd Angehörigen so geschildert worden ist, wic sie in den aus-
gesprochensten Fällcn grell zutage tritt, so ist schon in der Mehrzahl der
hierher gehörigen Fälle das Ergebnis nicht gleich disharmonisch. Nur eiue
gewisse Neigung zum Nervösen hin wird als ständige seelische Haltung er-
worben. Und hat sich nicht unser aller heutzutage eine gewisse Nerven-
stimmung bemächtigt, die zwar nicht mit der alten grobeu und krankhaften
Nervosität identisch ist, von der man vor zwei bis drei Jahrzehnten allein
sprach, — die aber doch eine Feinfühligkeit gegenüber Reizen aufwcist, wie
sie frühere Geschlechter nicht kannten? Jn dieser Erscheinung aber kann die
heutige allgemeine Nervosität uicht mehr als eine Form der Entartung be-
zeichnet werden: vielmehr ist sie, so geartet, nichts als eine entwicklungs-
geschichtlich herbeigeführte und zwar im Sinne der Nerfeinerung entfaltete
Abart früherer Nervcnstimmungcu. Und darum wird man sie, um den
Eindruck des Krankhaften, dcn das Wort Nervosität hervorzurufen nim ein-
mal geeignet ist, zu vermeideu, als entwicklungsgeschichtliche Erscheinung
bcsser mit eincm anderen Worte bezeichnen: und schon ist hierfür der
Ausdruck Neizsamkeit vorgeschlagen worden und hat in diesem Sinne An-
klang gefunden.

Diese Reizsamkeit also als ein entwicklungsgeschichtliches Element der
letzteu zwei Menschcnaltcr wird uns bleiben, wenn auch einige ihrer be-
sondcrs scharf hervortrctenden Eigenschaften durch eine zu erhoffende Er-
starkung der Willensseite des Daseins, sowie durch einc daniit zu erwartende
größere Breite ausgeglichcnen Gefühlslebens wieder mchr werden umgeformt
und gcdcckt werdcu. Sie wird uns bleiben, wie uus Elemente der Empfind-
samkcit unserer Ahncn, der Romantik unserer llrgroßväter und Großväter
geblieben sind. Und sie wird für immer auch Spuren beibchalten der
frühesten und stärksten Quelle ihrer Entstehung, Spuren des Charakters
der freicn Unternehmung.

l. Novemberheft Mb l^l
 
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