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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 3 (1. Novemberheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0191

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Einflüsse. Die Gegenwart dagegen und das Seelenleben, das dieser und
noch mehr der jüngsten Vergangenheit das Gepräge gibt, entbehrt wohl
auch, und gerade in vielen der ausgesprochensten Vertreter, der eigentlichen
Tätigkeit des Willens; aber sie ist sich dessen bewußt; und indem sie sich
ferner bewußt ist, das Seelenleben bis auf seine niedrigsten, im Nervenleben
verlaufenden Funktionen hin gleichsam abgebaut und erschlossen zu haben,
ist sie dieser neuen Errungenschaft froh und prostituiert darum mit einem
staunenswerten Fanatismus der Wahrheitsliebe das Jnnerste der eigenen
Persönlichkeit.

Dieser äußere Parallelismus und diese innere Divergenz der seelischen
Erscheinungen der Gegenwart und einer weit zurückliegenden Vergangenheit
sollte zu denken geben. Man sieht ohne weiteres, daß er nicht durch dic
besonderc nationale Entwicklung bedingt ist. Er ist auch tatsächlich nicht
bloß in der deutschen Geschichte — und hier eben verhältnismäßig noch
nicht stark — angedeutet, sondern Gemeingut der heutigen - europäischen
Entwicklung. Ja noch mehr: er läßt sich auch in der Geschichte so altgewor-
dener Völker wie der Jnder und Chinesen nachweisen. Er scheint überhaupt
etwas allgemein Sozialpsychisch-Menschliches zu sein. llnd liegt nicht sogar
seine Bergleichung mit allgemeinen Erscheinungen jedes organischen Daseins
nahe? Wo entsprächen in der organischen Entwicklung nicht gewisse Alters-
erscheinungen äußerlich den Erscheinungen srühester Jugend, während inner-
lich der entschiedenste Gegensatz herrscht? Und so würde der wunderliche
Parallelismus, der sich zwischen Urzeit und Gegenwart nicht bloß auf wirt-
schaftlichem und sozialem Gebiete, sondern, wie wir an anderen Stellen zu
sehen Gelegenheit haben werden, in jeder Hinsicht nationalcn Lebens zeigt,
für dic Gegenwart als Anzeichen des Verfalles zu deuten sein?

So viel ist klar: eine Volkswirtschaft, in der heute die Willenssnnk-
tionen durch Kapitalreichtum cbenso bedroht erschcinen würden wie in früher
Vorzeit durch Kapitalarmut, trüge augenscheinlich das Mal des Ungesunden.
Der Wille muß befreit, die Energie emanzipiert, der Mensch wicder zu
Ehren gebracht werden neben dem Kapital: und wir werdcn am Schlusse
dieses Buches sehen, daß starke Anzeichen einer Entwicklung in dicser Rich-
tnng vorhanden sind, indem die Unternehmung ungezügelter Konkurrenz ab-
gelöst zn werden beginnt durch eine solche geregelten Wettbewerbs.

Werden aber, indeni sich die Willensfunktionen von nenem regeln,
darum die nervösen Grundlagen des modernen Untcrnehmertums völlig
verloren gehen? Es könnte nur dadurch geschehen, daß die ungeheure Kultur-
entfaltung der letzten beiden Menschenaltcr ungeschehen gcmacht würde: es
wäre eine andere Form des Verfalles. Aber diese Möglichkeit braucht kanm
erwähnt, gcschwcige denn überdacht zu werden. Jst es etwa Viktor Emanucl I.
von Picmont und Sardinien gelungen, die Spuren der großcn Zeit Napo-
leons I. in Oberitalien zu vernichten dadurch, daß er die napoleonischen
Heerstraßen verfallen ließ, oder hat Kurfürst Wilhelm von Hcssen cs fertig
gebracht, die Einwirkungcn derselben napolconischen Zcit in scinem Lande
dadurch uugeschehen zu machen, daß er sie totschwieg? Die Antwort der
Geschichte war, daß man in Hessen vou eincm Regimente der Siebenschläfer
sprach: — selbst das Wirken eines Heros läßt sich nicht beseitigen. Um
wie viel weniger die tiefcn Eindrücke einer vollen Phase sozialpsychischer
Entwicklung!

Nein, dic Nervosität des Zeitalters der freien Unternehmung wird uns
lso Uunstwart XIX, 3
 
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