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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1905)
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Lichtwark, Alfred: Die Verschiebung der deutschen Kulturzentren
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0095

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zehnten Jahrhunderts in vielen Abschnitten von andercn Menschen
und von anderen Werken handeln als bisher.

Aber sie wird dadurch nicht ärmer. Trotz der unzähligen Hem-
mungen und Ablenkungen kann sie, wenn die Leistungen der ganz
Großen zusammengerechnet werden, selbstbewußt ihr Haupt neben
der französischen und der englischen Kunst erheben.

Alfred Lichtwark

8tif1ers vicklongen

Vorbemerkung. Stisters einsame Welt liegt still und scru so
abscits vom Treibeu des heutigen Tages, daß mau auf Wegeu üblicher
Art überhaupt nicht an sie herankommeu kaun. Bei andern liesest du eine
Geschichte, uud nuu weißt du so ungefähr, wie er ansschaut, bei Stifter ist
gerade das die Schwierigkeit: daß mau die erste Geschichte überhaupt mit
Aufmerksamkeit lese. Besieht man sie uämlich zum ersteu Mal, wie scheint
sie da lang und breit gedehnt, auf weite Streckcn wic leer au Haudluug,
wie ganz unzweifelhaft ungeschickt ist manches darin, wie langweilig kommt
einem das Ganze vor! Es gehört heutzutage, wo die Strömung des geistigen
Lebens keinen zu Stifter trägt, eine besondere Anlage oder eiue besondere
Willenskraft dazu, an seiner Seite zunächst einmal überhaupt zu bleiben.
Gelingt einem das, dann freilich rundet sich aus den Sätzen, die so eintönig
klangen, wohl plötzlich ein Bild, daß man stauneud aufblickt/ und nun uoch
eines, und nun eine Kette von Bildern, und uuu fühlt man, wie ein ge-
heimer Strom sie durchrinnt und lcise atmeu macht, was er umschließt.
Und danu liebt mau Stifter, liebt ihn nicht nur trotz aller seiner
Schwächeu, liebt ihn mit ihnen, liebt ihn sogar ein wenig ihretwegen.
Wir möchten versuchen, Lesern von heute durch eine kleine Blütenlese
Stifterscher Schönheit zunächst einmal Teilnahme an ihr zu erwecken.
Der Abdruck einer ganzen Erzählung würde sich nicht so gut dasür eigneu.
So gewiß aber die Blume mit Stengel und Blatt noch mehr erfreut als
die gebrochene, so gewiß sind all unsre Blüten noch schöuer dort, wo sie
noch in all dem Grünen leuchten, dem sie entwachsen sind.

Von Stifters Werken gibt es jetzt billigere nnd teurere Ausgaben
genug. Die schönsten sind die nenen des Amelangschen Verlages in Leipzig.
Auch eine sehr fein illustrierte ist dort erschienen.

Die Hecbfüße

Vor meinem väterlichen Geburtshause dicht neben der Eingangstür
in dasselbe liegt ein großer achteckiger Stein von der Gestalt eines sehr
in die Länge gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen sind roh ansgehaucn,
seine obere Fläche aber ist von dem vielen Sitzen so fein und glatt ge-
worden, als wäre sie mit der kunstreichsten Glasur überzogen. Der Stein
ist sehr alt, und niemand erinnert sich, von einer Zeit gehört zn haben,
wann er gelegt worden sei. Die urältesten Greise unscres Hauses waren
auf dcm Steine gesessen, sowie jene, welche in zarter Jugend hinweg-
gestorben waren, und nebst all den andern in dem Kirchhofe schlummern.
Das Alter beweist auch der Umstand, daß die Sandsteinplattcn, welche dem

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