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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1905)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Hilligenlei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0382

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tzittigeniei

Schlagen wrr das Buch auf, so klingen uns zunächst als Prä-
ludium ein paar Akkorde darüber entgegen, von was für Menschen
nicht gehandelt werden sollte und von was für einem doch. Nämlich:
Von einem derer, die, während sie hinter Jrrtümern herlaufen, auf
der nächsten Wiese statt einer Eselsherde eine Engelsversammlung
erhoffen und bei der nächsten Wegbiegung unterm Eichbaum das
ewige Wesen selber. Daun folgt die eigentliche Eingangsszene, die
an Realistik nichts zu wünschen läßt, bei Rieke Thomsen, der Heb-
amme. Wir denken an berühmte Vorbilder und sehen den kleinen
Dusenschön liebevoll an, als er nun eben geboren ist, während seine
Mutter stirbt und seine Großmutter die Geschichte seiner Vorfahren
erzählt. Frenssen ist gründlich, er zeigt uns wirklich seinen Helden
ab ovo. Bewahre, unsre Annahme hat sich das erste Mal verlaufen:
der kleine Dusenschön spielt in dem Romaue durchaus eine Nebenrolle.

Jst Frenssens „Hilligenlei" überhaupt kompouiert? Jm An-
fang scheint es auch sonst nicht so, man kann hundert Seiten lesen,
ehe man die Fädcu hat aus diesem Gewirr von Gängen, von Szenen,
von Menschen hinaus auf eineu Weg. Daun erst schreitet Kai Jans
neben uns, aber auch noch nicht, ohne sich oft aus Stuuden seitab
in Wies und Wald zu verlieren. Währenddem plaudern andre an seiner
Statt, oft von sich, noch öfter von lange vergangenen Geschichten, bei
denen auch sie selbew gar nicht beteiligt waren, und nur ausnahms-
weise einmal von der Hauptperson. Trotzdem bezieht sich, je länger,
je deutlicher, immerhin das meiste doch irgendwie wenn nicht auf
Kai Jans, so wenigstens aufeinander. Das Buch ist schou kom-
poniert, nur, leider, ist dieser seinem Gehalte nach bis zur Tragik
ernsthafte Roman in der Weise eines humoristischen komponiert.

Daher wohl vor allem kommt es, daß wir für Kai Jans nicht
s o sehr erwärmt werden, als wir's eigentlich sollten. Ein über-
feinfühliger und übermitleidiger Sohn aus armem Haus, der als
kleiner Jung gar nicht begreifen will, daß es wirklich und leib-
haftig auch schlechte Menschen gibt, der dann als Lehrling und Fak-
totum beim Wurstblättchen-Drucker selbst zum Phrasenmacheu miß-
braucht wird, der als Seemann mit in die Wclt zieht, als ehe-
maliger Matrose auf die Schulbank gesetzt wird, dann Lehrer wer-
den will, dann Prediger wird, der die verspielt hat, die ihn liebte
und die er liebt, und nun nach Südafrika zieht, und nach Jahren,
krank heimgeschickt, am Hafen stirbt! Wäre dieser Kai Jans nicht
eigentlich ganz ein Mensch danach, den Leser so zu gewinnen, daß
er ihm wie einem Freunde den Kranz, im Jnnersten ergriffen, aufs
Grab legte? Je nun, kommen alle die andern auf lauge Strecken
so gut ohne Kai aus, so sagen ihm schließlich auch die Leser leich-
teren Herzens Lebwohl.

Und noch etwas tritt dazu. Kai, der sehr, sehr lange ein un-
mündiges Knäblein geblieben ist, hat sich nun doch „in stiller Dorf-
einsamkeit, unter vielen klugen und ernsten Büchern, unter müh-
seligem, wirrem Kampf" „ins Mannesalter hinübergerettet". „Von
Kind an mit dem Sinn für das Natürliche, Schlichte, Wahre be-

3ve Rnnstwart XIX, 6
 
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