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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märzheft 1906)
DOI Artikel:
Schultze-Naumburg, Paul: Die Großstadtkrankheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0716

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Ois Grohslaätkrankkeit

Es ist ein charakteristisches Merkmal unserer Epoche, daß unser
Tun sich mehr im Bereich des Bewußten abspielt, als in früheren
Zeiten. Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Alten halbe Schlaf-
wandler gewesen wärcn und nicht gegrübelt hätten; ihr Arbeiten
vollzog sich nur mehr auf dem Wege erfahrungsmäßiger Uebung,
als heute, wo die Theorie meist eher da ist, als die Tat.

So ist es zu erklären, daß man heute erst von einer neuen
Städtebaukunde spricht, trotzdem wir auf eine große Menge der
herrlichsten Taten auf dem Gebiet des Städtebaues zurückblicken
können. Sie beginnen mit dcm Mittelalter und enden mit dem An-
fang des neunzehnten Jahrhunderts, entsprechend dcm Blühen und
dem Verfall unserer gesamten sichtbaren Kultur. Wir wissen das
ivieder, aber wir finden den Weg nicht mehr zurück, der uns zum
naiven künstlerischen Gestalten führt. Theorien haben die künst-
lerischen Triebe unseres Volkes seit hundert Jahren genährt, bis sie
bei dieser merkwürdigen Kost so schwach und blutleer geworden sind,
daß wir heute kaum wissen, ob sie nur von tiefer Ohnmacht über-
fallen oder ob sie schon ganz gestorben sind. Theorien haben auch
unsere neuen Städte gebaut und die alten auf ihre Methode ver-
bessert. Uud so ist es dahin gekommen, daß unsere neuen Stadt-
anlagen Muster vou Unzweckmäßigkeit und Häßlichkeit geworden sind
und daß die alten bis auf wenige Neste zerstört wurden. Jch glaube,
was wir heut brauchen, ist etwas künstlerische Praxis, auch auf dem
Gebiet des Städtebaucs. Wenu wir die wieder hätten, so würde sie
sich ganz allein der mannigfaltigen neuen Jdeen und wissenschaft-
lichen Kenntnisse bemächtigen, die unsere Zeit hervorgebracht hat,
um sie iu ihre Werke einzuschließen. Nur ein solches Arbeiten könnte
Zukunftsforderungen lösen, was durch die dürre Theorie der Polizei-
verordnung und das stäte unfruchtbare Theoretisieren über die Stadt
der Zukunft nie erreicht werden wird. Der Baubeamte lastet auf
uns, und nur der Baukünstler kaun der Erlöser sein.

Der bisherige Stadtorganismus, sagt mau, sei der Ausdruck
früherer Zustände gewesen. Unscre Zustände wären heute so durch-
aus andere geworden, daß auch unsere Städte vollkommen andere
Gestalt annehmen müßten. Die Stadt der Zukunft müßte weit aus-
gesprocheuer in zwei Teile zerfallen: den inncren, die Geschäfts-
stadt, die City, in dem sich das gesamte Erwerbsleben abspielte, und
den äußeren Gürtel der Garteustädte, die ausschließlich als Wohu-
stätten der Menschheit zu dieneu haben. Die Verkehrsverhältnisse

t. Märzheft

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