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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1905)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Gesund und darum trivial"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0156

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„Gesunä unä äarum trivial"

Ein gescheiter Mann hat einmal von unserm Seelenleben ge-
sagt: „was uns davon bewußt wird, ist im Vergleich zu all dem
Unbewußten nicht mehr, als die Schicht Entengrütze im Vergleich
zu all den Wasserschichten in einem See." Blickt man oberflächlich
auf den hin, so kann es sein, daß man nichts von ihm sieht als
von Nand zu Rand die grüne samtartige Fläche, deren tausend
und abertausend Teile sich so einträchtig zueinander ordnen. Aber
was sie nährt, liegt unter ihr, was sie nährt, das sehen wir so
ohne weitres nicht. Und sehen nicht, was darin von seltsamen
Pflanzen seltsame Wälder baut, noch was an Tieren darin sich
liebt und haßt, nützt oder auffrißt, es sei denn, daß irgend ein Fisch-
Unhold ein verfolgtes Gesühlchen oder Gedanrlein durch die Enten-
grütze hinaus an die Oberfläche treibt, oder daß er gar selber auf-
taucht — dann gibt's Risse. Odcr auch, daß von oben ein Wind
durch den grünen Ueberzug des Bewußten hindurch die Wasser da-
runter ins Schwanken bringt, wobei das Bewußte hübsch mittanzt.
Oder schließlich, daß gar ein rücksichtsloser Ruderschlag die grüne
Wiese des Oberscheins zerschlägt, was dann dem Freunde der Er-
kenntnis immer cinen lehrreichen Einblick gewährt.

Mir war, als dürft' ich solch einen tun, als ich neulich die
Worte las: Böcklin sei „gesunder und darum etwas trivialer" ge-
wesen als ein andcrer großcr Toter der bildenden Kunst. Es war
nicht zur Verklcinerung, sondern in warmer Verteidigung Böcklins
gegen verständnislose Angriffe und nicht etwa von cinem Grünen
geschrieben, sondern von eincm cinsichtigen und bedächtigen Manne,
und es könnte den Herrn Verfasser umsoweniger irgend ein ernst-
hafter Vorwand treffcn, als es in einer nebensächlichen Bemerkung
zu lescn war. Hätte dcr Ausdruck im Blickpunkt des Bewußtseins
gestandcn, er wär' dem Verfasser wohl schwerlich so durchgeschlüpft.
Aber gcrade das macht ihn uns interessant, daß er bei seinem
Auftauchen jene schöne grüne Tecke zerriß und so zeigen konnte,
was ini Unterbewußten lag. Jch behaupte: in Tausenden unserer
Kunstgenießenden, Kunstbesprechenden und Kunstbeflissenen schwimmt
heimlich das Gefühl herum: was gesund ist, ist trivial.

Hören wir andern das Wort, so kommen vor nnser geistiges

Auge zunächst Geschöpfe, die mit dem Verfasser, an den ich denke,

gar nichts zu tnn haben. Da naht sich im Glockenrock der dekadente

Jüngling, dcr amethstfarbene Monde in türkisblauen Bäumen sieht,

l- Novcmberheft t905
 
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