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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 7 (1. Januarheft 1906)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Von der Richtigkeit in der Kunst
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Bode, W.: Das Bedeutende im Kunstwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0466

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von Sonnc und Mond anderes, als die Kühnheit ungeheurer Energie
im Anschauen des Gottes, der vorüberbraust? Alle Mängel der
Richtigkeit an Tatsachen und Formen, an Farben nnd Linien, an
Perspektivc und was es noch sei, und ob sie aus Unkenntnis stam-
men oder woher sonst: bei großer Kunst schrumpfen sie mit der
Zeit und endlich fallen sie ab, während die Seele des Werkes mit
immer klareren Augen glänzt. A

vas keäeutenäe irn Runslwerke

„Bedeutung" verlangte Goethe von jedem Kunstwerke. Seine
erste Forderung ging, wie wir neulich (Kw. XIX S. (52) gesehen haben,
auf Anschaulichkeit oder „Sinulichkeit", denn, meinte er, jede Mit-
teilung durch Rede oder Schrift soll uns doch die Wahrnehmung
durch Auge, Ohr und die übrigeu Sinne ersetzen, und wir nehmen
doch auch im wirklichen Leben nie Gedanken und Gefühle eines andern
wahr, ohne zugleich seinen Gesichtsausdruck und seine Bewegungen
zu sehen, vhne seine Stimme zu hören, ohne seine Umgebung mit-
aufzunehmen. Goethe las einmal ein an den König von Bayern
gerichtetes Gedicht: hohe Gedanken in schwungvoller, edler Sprache.
„Es ist ein sehr schwaches Produkt", urteilte er, „es gibt uicht die
Spur von änßerer Anschauung, es ist bloß mental." Also die pracht-
vollste „Mentalität" genügte ihm nicht, auch Herzlichkeit und Be-
geisterung taten es nicht, wenn die Künstler nicht zugleich vor die
Phantasie Gestalten hinzaubern konnten, wie wir sie sonst durch die
Sinue in unser Jnneres einziehen.

Aber das Gestaltete muß auch „bedeutend" sein, lehrt Goethe
weiter. Er brauchte mauche Wörter anders als wir, auch dieses.
Er würde nicht Moltke einen bedeutenden Heerführer, Menzel einen
bedeutenden Maler oder eine Million cine bedeutende Summe ge-
nannt haben; dagegen hätte er das Verlöschen einer herunter-
gebrannten Kerze sicherlich für bedeutend erklärt. Er nannte eben
das bedeutend, was nicht bloß sich selbst darstellt, sondern außerdem
als ein Beispiel oder Repräsentant vieler anderer Erscheinnngen
und Vorgünge gelten kann. Etwas höchst bedeutendes sah er z. B.
in einer Kuh, die ihr Kälbchen säugt, denn hier gewahrte er nicht
bloß eine einzelne Kuh und ein einzelnes Kalb, sondern Nepräsen-
tanten der ganzen Tierwelt, ja, der gesamten lebenden Natur; hier
sah er das Gesetz, daß das vorhergehende Erstarkte das nachfolgende
Hilfsbedürftige schützt, nährt und pflegt. Namentlich deshalb ver-
ehrte Goethe „Myrons Kuh", wie er sie sich dachte, als ein herrliches
Werk: „Die Mutter, stramm auf ihren Füßen, wie auf Säulen,
bereitet durch ihren prächtigen Körper dem jungen Säugling ein
Obdach; wie in einer Nische, einer Zelle, einem Heiligtnm, ist das
kleine nahrungsbedürftige Geschöpf eingefaßt und füllt den organi-
schen Naum mit der größten Zierlichkeit aus. Die halbkniende Stel-
lung, gleich einem Bittenden, das aufgerichtete Haupt, gleich einem
Flehenden und Empfangenden, die gelinde Anstrengung, die zarte
Heftigkeit. . . Und nun wendet die Mutter das Haupt uach iunen
und die Gruppe schließt sich auf die vollkommenste Weise selbst ab."

(. Ianuarheft (H06 57 t
 
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