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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1905)
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Scheffler-Friedenau, Karl: Der Deutsche und seine Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0229

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Oer Oeulscke unct seme Kunst

V o rb e m e r k u n g. Ueber dic F-ragen, von denen im Fokgcnden
gcsprochen wird, sind die Meinungen der Gebildeten heutc noch vielfach
ganz ungeklärt. Und doch wäre cinc Klärung so wünschcnswcrt. Wer aber
die Meinung des cincu licst, liest seltcn die Meinung dcs andern, denn in
„scinem" Blatte spricht eben uur der eine. Sollte nicht cine Aussprache
von Männern, deren Gedanken zu verschiedenen Ergebnissen kommen, an
ein und dcrselbcn Stelle fruchtbarer sein? Um den Versuch zu machen,
lud ich Karl Schefflcr zu ciuer Untcrhaltung im Kunstwart cin, und er
hatte die Güte, den Vorschlag anzunehmen. Dem solgenden Aussatze wird
also eine Antwort folgen, wir „identifizieren" uns nicht in allem mit ihm. A

1

Nicht nur Jndividuen schaffen sich Lebenslügen. Auch Bölker, die
nicht Herren ihres Schicksals sind und unbewußt von undisziplinierten
Kräftcn dcs Lebens vorwärts geschoben werden, können vor sich selbst
nur bestehcn, wenn sie ihre Unkraft für einen Willensakt ausgeben
und ihre Not als Tugend erscheinen lassen. Nie wird ein Volk zu-
geben, daß es edle Kräfte mißbraucht und Konsequenzen verkennt;
es müßte sich dcnn entweder selbst verneinen, was unmöglich ist,
oder den Entschluß der Umkehr fassen. Bermag der einzelne sich
untcr besonders günstigen Umständen zu einer solchen Nevision auf-
zuraffen, genügt bei ihm ein in der Selbsterkenntnis gewonnener
Entschluß, so ist diese Reinigung doch undenkbar für ein ganzes
Bolk. Eine Gemeinschaft gibt niemals einen Jrrtum zu. Werden
die Fehler von folgenden Generationen verbessert, so nennt man das
Entwickclung. Die Majorität hat stets den Schein des Rechtes, weil
sie jedcn Widerspruch erdrücken kann. Wenn sie ein von der Schwäche
geborenes Jdeal einsetzt, gilt dieser Götze, einer Gegenwart wenig-
stens, ebensoviel wie zu anderen Zeiten ein lebendiger Gott. Und
es ist charakteristisch, daß, wenn die Schwäche so zum Jdeal heraus-
geputzt wird, viel und gern und mit dem Pathos derer, die ängstlich
sind, daß man ihnen nicht glauben könnte, von Ethik und Moral
gesprochen wird. Sei es, indem wesenlose sittliche Forderungen er-
hoben oder indem die als feindlich empfundenen Werte wütend ver-
neint werden. Wie dabei auch Lehre und Leben, Theorie und Praxis
auseiuanderklaffen: immer gelingt es doch dem Erhaltungstrieb, über
die Widersprüche mit vollgültigen Phrasen hinwegzukommen und
die innere Charakterlosigkeit ins Licht einer höheren Logik zu rücken.
Niemand ist schlauer, erfinderischer und skrupelloser in der Wahl

2. Novemberhcft sHOS
 
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