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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1905)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Regeln
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0302

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Kegein

Jch war einmal Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Deutschen
und einem Franzosen. Der Deutsche, ein gebildeter Mann und Schrift-
steller dazu, beherrschte uatürlich seine Muttersprache volltommen
und hielt sich daher für berechtigt, dem nur unvollkommen deutsch-
redenden Franzosen grammatische Belehrungen zu erteilen. Als
dieser bei einem Berichte über seinen Aufenthalt in einem Bade-
orte die Formen: wir haben viel „tanzt" und „lacht" gebrauchte,
verbesserte der Deutsche: „Es heißt g etanzt und g elacht. Dieses
sogenannte zweite Partizip wird mit dem »Augment«, d. h. dcr Bor-
silbe »ge« gebildet; man sagt g e hört, gelaufen, g esungen usw."

„Wie einfach!" sagte der Franzose. „Wir haben also viel ge-
tanzt und gelacht und uns sehr geamusiert."

„Nur »amusiert«. Die gcnannte Regel bezieht sich natürlich
nur auf dcutsche, uicht auf Fremdwörter. Man bildet einfach in-
teressiert, animiert, reduziert, oktroyiert ohne das Augment. Nur
Ungebildete sprechen von »gestudierten Herren«."

Der Franzose dankte für die Belehrung. Er habe immer ge-
bedauert, nicht mehr deutsche Grammatik getrieben zu haben. Oder
heiße es etwa „begedauert?" „Nur »bedauert«," erwiderte der
Deutsche. ,,»Be« ist eine Vorsilbe. Jst ein Zeitwort schon mit einer
solchen versehen, so kann natürlich nicht noch eine zweite davorgesetzt
werden. Es heißt »verloren« nicht »geverloren«, »erreicht«, »be-
wiesen«. Aber ich belästige Sie wohl mit meinen Korrekturen?"

„Jm Gegenteil; ich freue mich, zum Richtigen anleitet zu werden."

„Nein, an g e leitet. »An« ist keine Vorsilbe, sondern eine wirk-
liche Präposition. Bci Zeitwörtern, die mit Präpositionen zusammen-
gesetzt sind, wird immer das Augment gesetzt, nnd zwar wird es
zwischen Verb und Präposition eingcschaltet. Man bildet »mitg e-
teilt«, weil »mit« eine Präposition, aber »erteilt«, weil »er« nur eine
Vorsilbe ist. Aus demselben Grunde heißt es aus gezogen aber
erzogen, angetragen aber vertragen, durchgegangen aber ent-
gangen. Hier muß immer streng unterschieden werden."

„Sie sagen »u n t e r s ch i e d e n«. Jst nicht »unter« cine Prg-
position und müßte es also nach Jhrer Regel nicht »unter g e schieden«
heißen?"

„Nein, nur »uuterschieden«. Bei diesem Zeitwort wird »unter«
nicht mehr als Präposition empfunden. Nur wenn eine Präposition
noch ihren räumlichen oder zeitlichen Sinn hat, wenn also das Zeit-
wort in eigentlicher, nicht in übertragener Bedeutung verwendet

p Dezemberheft sgvä 237
 
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