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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1905)
DOI Artikel:
Kretzschmar, Hermann Theodor: Die Musik als dienende Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0313

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vie s^usik als äienencle Runsl*

Wir unterscheiden nach ihrer Verwendung die Musik als dienende
und als freie Kunst. Sie „dient" übcrall, wo sie sich außermusikalischen
Zwecken unterordnet, sich ins öffentliche nnd bürgerliche Leben ein-
fügt; sic ist frei, wo das musikalische Kunstwerk von allen äußeren
Jnteressen gelöst, rein und allein wirken soll. Zwischen diesen beiden
Gruppen hat sich nuu in der Gegenwart cin Mißverhältnis heraus-
gcbildet. Die Musik als freie Kunst wird zu hoch, als dienende wird
sie zu niedrig eingeschätzt, die letztere gegen die erstere zurückgestellt,
in ihrcm Wirkungskreis mehr uud mehr eingeengt. Jn dieser Ent-
wicklung liegen sowohl für die Musik selbst, als auch für die musi-
kalische Kraft des Volkes Gefahren. Jene bedarf wie alle Künste
des engen Anschlusses an Kultur und Leben, das Volk aber kanu
seine künstlerische Hanptnahrung, dic Liebe zur Kunst, den Sinn
für sie, nicht aus Museum, Galerien und Konzertsälen beziehen,
sondern sie muß ihm auf Straßen und Plätzen, in Kirchen so geboten
werden wie im Mittelalter, wie in Jtalien noch heute; sie muß in
seine Nrbeit, in seine Erholung, in sein Stimmungsleben sich un-
gesucht und reichlich einmischen. Als freie Kunst leistet die Mnsik
das höchste, was ihr technisch uud geistig möglich ist; als dienende
hat sie die meisten Untertanen, trifft auf voll empfängliche Gemüter
und wirkt und wirbt am weitesten. Das Nichtige ist deshalb nicht
die Gleichstellung der beidcn Grnppen, sondern die Bevorzugung
der Musik als dienender Kunst. So halten es nicht bloß die heutigen
Naturvölker, die die freie Kuust selbst in der einfachsten Form als
Unterhaltungsmusik ganz gegen das Arbeitslied zurückdrängen, son-
dern auch bei deu Kulturvölkern ist fast immer das natürliche Uebcr-
gewicht der Musik als dienender Kunst beachtet worden, Die alt-
asiatischeil Musikfeste und Monstreaufführungen, von denen Fetis
und Rowbothan erzählen, sind Phantasiegebilde. Klar geht aus den
Bilderquellen der Frühgeschichte des Orients uur die Musik beim
religiösen Kultus, bei Festen, bei Jagden hervor; eigen ist ihre
Verwendung bei den Freuden und Mühen der Toilctte. Jmmer
sind im Dienstpersonal, das an- und auskleiden hilft, Spieler und
Sänger. Auch die Griecheu haben die Musik als freie Kuust kaum
gekannt. Bei Homer treten die Sänger beim Mahle auf, stellen
sich in den Dienst der Vaterlandsliebe, das Bolk hört aus ihrem
Munde Sagen und Heldengeschichten. Die Hauptstcllen für die Musik
der Hellenen sind Tempel, Theater, öffentliche Spiele, Heeresdienst;
die reisenden dionysischen Küustler gehören erst der Zeit des inneren
Verfalles an. Die Nömer warcn sogar gegen die Musik als dienende

* Wir bringen ansnahmsweise einmal einen Abschnitt aus einein
schon vor 3 Jahren erschienenen Werke, aus Hcrmann Kretzschniars „Musi-
kalischen Zeitfragen" (Leipzig, C. F. Peters), erstens weil er sich so ganz
in der Richtung der Kunstwartbestrebungen bewegt; zweitens aber, nm
auf das bedeutende, seinem Gedankensgehalte nach noch lange nicht hin-
länglich bekannte Buch wiederuin mit Nachdruck aufmerksam zu machen.

2H8 Ilunstwart XIX, 5
 
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