Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1906)
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0494

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
M Umschau

Beginnen wir diesmal mit einer
rechten Eingangsfrage, dcrjenigen
nach dem Ursprunge der Poesie.
Genauer: ist sie Prodnkt des Ein-
zelnen oder der Gesamtheit? Max
Burckhard meint in scinem Beitrage
„Zur Biologie der Dichtungen" (Nene
Rundschau, Dezemberheft): was wir
Schöpfnng cines einzelnen ncnn-
ten, sei immer Werk einer Vielheit.
Das einzelne Kunstwerk stelle nur
eine momentane Phase in einem
Entwicklungsgange dar. Es fehle uns
noch eine Bctrachtnng der Kunst
unter dem Gesichtspunkte der Ent-
wicklung der einzelnen Jdeen, die
in den Kunstwerken zum Ansdrucke
gelangen. Am Nibelungenliede und
am Homer sucht Burckhard sich die
Beispiele. Er zeigt, auf welchem
langen Wege Troilns und Cressida
bis zn Shakespere kommcn, und wie
der poetische Keim in der Jlias sich
zur Tragikomödie auswächst. Jede
Zcit legt ihre Jdeen in den Stoff,
d. h. die Menschen jeder Zcit model-
liercn die Gestalten nach den Jdecn,
die ihncn vorschweben, nach ihren
sittlichen Forderungen und Jdealen.
Wir verpönten das Jnteresse am
Stoff, aber nur, weil wir aus der
Not eine Tngend machcn müßten,
denn was heute stosflich neu ge-
schaffen wird, vertrage keinen Ver-
gleich mit den Schöpfungen jener
Volkskunst, bei dcr die stosfliche Er-
findung so sehr viel reichere Form
wäre. Das Stoffliche sei eben auch
nur eiue Form, die Form für die
Jdeen, die eine Zeit und ihr Leben
bewegcn, und denen das Kunstwerk
als Mittel des Kampfes ein Mittel
zum Siege sei. Ein Gedanke, der
in unsern Tagen der regsamen Ar-
tistik guten Nachdenkens wert scheint.
Wird aber die geforderte Entwick-

lungsgeschichte der Jdeen auch in
unsrer Zeit noch so selten bcarbcitet?
Und täte die Literaturgeschichte
wirklich gut, ihr besonderes Arbeits-
gebiet, das doch stets in der Be-
trachtung der schöpferischen Persön-
lichkeiten am reichsten fruchten wird,
dorthin zu verlegeu, wo die Kultur-
und allgemeine Geistesgeschichte ihren
Stammsitz hat?

Die Bedeutung der poetischen
Jdee legt Herbert von Berger dar
in einem Aufsatze „Dichtung und

Wahrheit" (Gegenwart 8. jO. 5). Das
Leben sei Traum vor uusern Augcn,
eine Täuschung wie ein Gedicht, und
die tiefste und einzige Bedeutung
der Poesie sei, immer an diese
Einsicht zu erinnern. Annehmbarer
klingt es, wenn Berger den Zweck
einer Dichtung dahin bestimmt: das
.Wirken der Jdee im menschlichen
Empfinden und in dessen Aeuße-
rungen zu zeigen. „Jede Erschei-
nung, jede Gestalt Symbol zur
Durchleuchtung der einen Jdee."
Aus der Anschauung sei die

Jdee gesogen; sie könne sich nur

wahrhaftig zeigen, wenn sie in der
Anschauung lebendig gemacht werde.
Mit der Schwere und Tiefe der

Jdee müssen die Symbole wachsen.
Die Weltanschauung begrenze das
Erfassen der Jdee, aber vom Dach-
first sei das Panorama so gerundet
wie vom Bergesgipfel.

Heimatsdichtung, meint Timm
Kröger (Dtsch. Tagesztg. sst. ll- 5),
stammt meist von solchen Poeten,
die selbst nicht mehr im Jugend-
lande, meistens auch nicht mehr in
der engsten Heimat leben. Es werde
sich hier schon deshalb nicht so sehr
um Gegenwartsbilder als um Bil-
der einer mehr oder weniger weit
zurückliegenden Vergangenheit han-
deln. Kröger nimmt sich selber als

s. Ianuarheft jst06

29?

> Läteratoi'
 
Annotationen