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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1906)
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Schjelderup, Gerhard: Stimmen der Völker in Liedern: das norwegische Volkslied
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Bartels, Adolf: Sprechsaal: Nochmals: Gustav Frenssens "Hilligenlei"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0604

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sprechen durch diese Lieder, wenn sie sich nicht einem köstlichen Humor,
einer schelmischen Heiterkeit oder auch eincm wilden, alles bewegenden
Trotz hingeben. Von den zartesten Empfindungcn bis zur Grobheit
und zur Roheit bewegen sich diese unzähligen Melodien, die in schran-
kenloser Ueppigkeit überall entstanden und die geheime Geschichte der
sehr verschiedenen Volksstämme dort erzählen. Die Tänze sind bald
wild, brutal, bald zart, graziös oder humoristisch — alle sprühen von
Leben und strotzen von Kraft. Die Lebenslust einer gesunden germani-
schen Nasse hat die Trübsale des Daseins und die finsteren Naturmächte
bcsiegt, wie einst Sigurd Fafnersbane den Drachen.

Es wäre natürlich unmöglich, ohne unzählige erläuternde Bei-
spiele die Eigenart der norwegischen Melodik, Harmonik und Nhyth-
mik näher zu erörtern. Jn den Tänzen fällt gleich die Nebeneinander-
stellnng zweiteiliger und dreiteiliger Rhythmen auf: Das kühne An-
schlagen und die freie Auflösung der Septimen und Nonen, die eigen-
artige Mischung von Dur und Moll, die bisweilen an die Kirchcntonart
erinnert, sind Charakterzüge, die schon oft erörtert worden sind. Allcr-
dings wird man nur bei einzelnen hervorragenden norwegischen Tondich-
tern wie Grieg oder Svendsen die entsprechende harmonische Grund-
lage der Volkslieder vorfinden. Die große Ausgabe von Lindemann und
die populären Ausgaben bei Warmnth und Wilhelm Hansen
sind schlccht. Lindemann hat sich durch Einsammeln von 600 nor-
wegischen Volksliedern sehr verdient gemacht, er hat aber kanm eine
Ahnung von der nationalen Harmonik und Rhythmik gehabt, sodaß
seine Ausgabe in dieser Beziehung ganz dilettantisch geriet. Nur bei
dcn eben genannten Komponisten wird also ein Ausländer die charakte-
ristisch norwegische Art kennen lernen. Bei Lindemann darf er nur
die Melodieu ansehen nnd sich um die Satzweise gar nicht kümmern.
Nur hier uud da hat den Bearbeitcr ein richtiges Gefühl geleitet, sodaß
einzelne Tänze und Choräle immerhin brauchbar sind. Bisweilen
hat der alte Herr sich sogar damit unterhalten, aus Volksweiseu Krebs-
Kanons zn konstruieren, um hier seiner scholastischen Gelehrsamkcit zu
fröhnen. Grieg vor allem hat unser Volkslied verstanden und seine
ganze reiche Kunst auf diesem Naturboden aufgebaut, wo sich seine
kräftige Originalität zu voller Blüte entfalten konnte. Seine geniale
Bchandlung norwegischer Tänze und Volkslieder stcht einzig da. Auch
andere jüngere Komponisten trinken aus gleicher Quelle Kraft. Gerade
die norwegischcn Volkslicder enthalten aber so viele künstlerische Mög-
lichkciten in Keimen, daß der norwegischen Musik wohl noch eine weitere
Entwicklung dieser Keime auf allcn Gcbieten bevorsteht.

Gcrhard Schjelderup

8precks3Ll

(Unter sachlicher Verantwortung der Einsender)

s^ockrnals: Gustav frenssens „Hilligenlei"

V o r b e m e r k u n g. Der Abdruck des folgenden Aufsatzes geht an dieser
Stelle nur aus einem ganz besondcren Grunde an. Bartcls hat seine Arbeit
nicht für dcn Kunstwart, sondern für eine Zeitschrift verfaßt, deren ständiger

y Zebruarheft jH06

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