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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 11 (1. Märzheft 1906)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0735

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Kus äer ällesteu gernianisckeri Vrssa

V o r b e m e r ku n g: Jst es uicht bcinahe unbegreiflich, daß wir bis
anf ganz wenige unter uns von der ältesten germanischen Prosa bisher
so gut wie gar nichts gewußt, daß wir jedenfalls kaum die kleinsten Bruch-
stücke davon gekannt haben? Wir in Deutschland, meine ich, die Norweger
kannten sie schon, der Aussatz von Bonus in diesem Hefte spricht davon.
Jch bin überzeugt: wer erst einmal ein Verhältnis zu dieser Llunst gewonnen
hat, sodaß sie ihm überhaupt lebeudig wird, der wird eher zurückhaltend
dcnn übertreibend sinden, was Bonus auch sonst über sie sagt.

Fast ein Jahrtausend ist's her, da entwickelte sich fern in Jsland uud,
was noch ganz bcsonders wichtig ist, unabhängig von aller lateinischen oder
sonst antiken Literatur vollkommen bodcnwüchsig die erste germanische Er-
zählkunst in Prosa, und bald zog der „Sagamann" von Hof zu Hof wie
der Sänger, der Skald. Wirkliche Begebenheitcn waren's, die er „sagte",
Jahrhunderte später erst sammelte man Saga nach Saga auf dem Per-
gament. Es war eiue harte, starke Kunst. Alles drum und dran Poetisierender
Redseligkeit fällt da in „stilvoller Enthaltsamkeit" weg, die lnappstcn An-
gaben genügen wie eine Art Szenarium für die Szenen, das beste baut
sich in Dialogen auf. Ju Dialogen, die von gedrängtestem Gehalte sind.
Wie sich da aus wenigen Worten dic Charaktere entwickeln, es crfrischt
in unsrer Zeit der Phrasenfülle wie das Eintauchen in ein Meeresbad.
Und was waren sie von Natur aus für Seelenkenner, die alten Herren!
Wo ist in nnsrer Geschichte vom Hühnerthorir bei irgend einem Charakter
der kleinste Bruch? Wie sind die einzelnen geschildert, der edle Blundketil,
dann Thorir, in allem der erbärmliche Parvenü, dann der hcrrische aber
cdelrassige Odd, der schließlich seinen Grabhügel hoch drobcn will, wo er
weit übers Land sieht —, selbst Nebenpersoncn, wie der uorwegische Kauf-
mann oder Arngrims Knabe treten in voller Körperhastigkeit vor uns, wenn
wir nur erst bei Namensnennung erkenncn, wem's gilt. Die Welt aber,
die um diesc Menschen aus dunkelsten Vergangenheitcn in Dämmerhelle
hcrauftancht, ist für uns Deutsche von höchstem Jnteresse. Einc merkwürdige
Welt ist's, in der die Heidengötter tot nnd dcr Christengott noch nicht lebendig
scheinen, als wollte der Sagamann weder die Alten krünken noch die
Jungen. Eine Welt voll Mord und Totschlag, in Schuld- und Rachekettcn,
wo mau sich Freunde und Weibcr mindestens cbensosehr wie um ihrcr
selbst willen wegen des Schutzes durch ihre Angehörigen erwirbt oder erkauft,
und in der doch nur eines unbedingt verläßlich ist: das Ehrenwort, das, ein-
mal gegeben, nie mehr zurückgenommen wcrden kann. Eine Welt voll selt-
samer Einrichtungen und Gebräuche, voller Engen und nicht ohne Wciten, eine
Welt, die ohne jede Rührsamkeit und Wehleidigkeit von Listen sowohl wie von
Roheiten abcr auch von Gesundheit strotzt. Vielleicht hat Heusler, der treff-
liche Uebersctzer und Einlciter der Hühnerthorirgeschichte, recht, wenn
er meint: Allcs in Allcm genommcn könntcn wir uns trotz aller Unter-
schiede in Ranm und Zeit doch schwerlich irgendwoanders ein so anschau-
liches Bild auch vom deutschen Leben der vorkarlischen, ja der taciteischen
Zcit hcrausholcn als aus diesen Erzählungen Altislands! Ein Grund, der
für sich allcin genügcn sollte, unsre Teilnahme sür sie wachzurufen!

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