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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märzheft 1906)
DOI Artikel:
Schultze-Naumburg, Paul: Die Großstadtkrankheit
DOI Artikel:
Bonus, Arthur: Altisländisch und neudeutsch
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0724

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in ungünstige und immer ungünstigere Lebensbedingungen ver-
setzt, und jede neue technische Errungenschast muß dazu herhalten,
als schlechtes Surrogat für den Verlust von dem zu dienen, was
wir früher natürlich besaßen und deswegen nicht eimnal besonders
schätzten. Die neunmal Klugen sagen: der moderne Mensch muß
sich anpassen. Das will hier sagen: es liegt nun cinmal im Zug
der Zeit, daß die Menschen in die Großstadt drängcn, und sie wer-
den ja wohl auch ihre Gründe dazu haben. Und wie soll man es
überhaupt hindern? Naum zum Wohnen muß doch gcschaffen wer-
den, wenn der Andrang da ist. Man könntc darauf antworten:
Die Motten müssen ja auch wohl ihre Gründe haben, weshalb sie
sich in das Licht drängen. Jst damit bewiesen, daß dieser Drang
der Zeit ein gesunder ist? Gebt dem Volk ein anderes und bes-
seres Jdeal, und es wird nach dem besseren drängen. Ein jeder
muß von seiner Stelle aus versuchen, das heutige Jdcal der Groß-
stadt zu zerstören und dafür ein neues, edleres, menschlicheres auf-
zubauen. Die ganze mühsam erstrebte Anpassung an unmögliche Ver-
hältnisse wäre unnötig, wenn die Menschheit ein besseres Jdeal hätte.
Und, gottlob, die Zeichen mehren sich, daß der Anfang der Besse-
rung, die Erkenntnis der Gefahr immer weiter an Voden ge-
winnt. Sv wird man bald mit vollem Ernst das Problem be-
arbeiten: mit allen Errungenschaften der neuen Erkcnntnisse und
der neuen Techniken Ansiedelungen zu schaffen, welche die wahren
Vortcile der Großstadt von hente gewähren und doch von ihren
Nachteilen frei sind. Vielleicht ist die „Gartenstadt"-Bewegung nach
diesem Ziele hin die erste wichtige Station.

p)aul Schnltze-Naumburg

ZUislänäisck unä neuäeulsck

Darf man für irgend eine Aufgabe, sci sie nun kleiu oder groß,
die Anlehnung nach rückwärts suchen? Man ist gcneigt, das zu
leugnen. Man ist geneigt, das Rezept gerade dariu zu sehen, daß
man vor allem das Alte, das Vergangene abschneiden müsse, um
das Neue zur Entfaltung zu zwingeu, sozusagen durch den der Natur
innewohnenden borror vaoui. Das sieht nun doch beinahe so aus,
als müsse man die Wurzeln dem Baume abschneiden, um ihn zu
veranlassen, oben hinaus zu wachsen. Es gibt cben keine chemisch
reine Moderne. Der Mensch mitsamt seinen Bedürfnissen ist durch
die Jahrtausende gewachsen. Er ist ein kompliziertes Ding. Es
begegnen sich in ihm Uraltes und Allerzukünftigstes. Wir haben
Stimmungen und Bedürfnisse in uns, die wach werden und ant-
worten, wcnn ein Wort aus alten Jahrtausenden erklingt, auf jedes
andere bleiben sie stumm. Zum mindesten aber Kunst und Religion
wenden sich an den ganzen Menschen, das Kind dcr Jahrtausende
und den Vater der Zukunft, nicht an dic schmale Gegenwartlinie,
die ihm irgendwo um den Hals läuft.

Doch auch der Mensch der weiten Vergangenheit und der fernen
Zukunft geht durch die Gegenwart und kann nur iu ihr augetroffen
werden. Das ist richtig; eben deshalb kann man um so ruhiger

b Märzbeft ly06 Z77 s
 
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