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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

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Heft 9 (1. Februarheft 1906)
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Schjelderup, Gerhard: Stimmen der Völker in Liedern: das norwegische Volkslied
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https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0602

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8lirnnien äer Völker in Lieciei-n*

Oas norvegiscke Volkslieä

Jn den großen Kulturländcrn, welche die Musik als Kunst schon
seit Jahrhunderten pflcgen, stirbt das Volkslied leider, so scheint es,
allmählich ab. Die wilden Blumen der geheimnisvollen Wälder und
einsamen Gebirgstäler können den Wettbewerb mit den Gewächsen
der wohl gehegten Gärten und Treibhäuser nicht vertragen — sie
welken, und statt wahrer Volkslieder ertönen „volkstümliche" Lieder,
Stndentenlieder, patriotische Lieder und — Gassenhauer. Man vergaß
auch bald die alten Tanzformen und ersetzte sie durch Wiener Walzer,
durch Polkas nnd schließlich durch Kakewalkmusik. Jn Jtalien, Deutsch-
land und Frankreich hat sich das echte Volkslied nur in entlegencn
Gegenden bewahrt, während die meisten sogenannten Volkslieder ent-
weder alte Kirchenlieder oder ziemlich spüt entstandene Nachbildungen
einer schon blühcnden Kunstmusik sind. Jn Nußland, Finnland, Schwe-
den, Norwegen, Schottland, Jrland konnte sich dagegen das Volks-
lied ungestört weiter entfalten. Jch will heute zur Eröffnung der
neuen Folge über das Volkslied von dem Sachstand bei uns in Nor-
wegen reden. Während in Dänemark die Entwicklung ziemlich früh
unterbrochen wurde, sodaß die dort heute gesungenen echten dänischen
Volkslieder schon dem Mittelalter entstammen, ohne daß ihnen ein
ausgiebiger Nachwuchs gefolgt wäre, sind wir besser daran. Die Gesetze
der Entwicklung der Volksmusik sind aber wohl überall dieselben.

Bei uns treten drei Perioden deutlich hervor: die ältcste schuf
die sogcnannte „Kjampevise" (Reckenweisen), eine Art Balladen,
großzügig, einfach, ziemlich frei uud eigenartig in der Form, edel und
kräftig, aber auch eintönig in der Melodie, echt mittelalterlich in der
charaktervollen Harmonik, die den Kirchentonarten nahe steht. Die
Dichtung spielt eine hervorragende Rolle und ist im allgemeinen von
großer Schönheit und Kraft. Mehrere sind sehr alt. Die Dichtungen
sind wcnigstens teilweise noch in heidnischer Zeit entstanden, ob auch
die Melodien? Es wäre möglich, vielleicht aber haben sich die noch
erhaltenen Mclodien auch unter Einfluß der alten Kirchenmusik ge-
bildet, also iu der Zeit vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert.
Als Beispiel gebe ich das sogenannte „Draumkvede" (den Traum-
gesang), das der ältcsten Zeit angehört und schon dichterisch schr inter-
essant ist. Der nordische Charakter tritt schon in diesen uralten Melo-
dten deutlich hervor.

Während die Reckenlieder von fahrenden Sängern gcdichtet und
komponiert waren, erblühten in der folgenden, mittleren Periode die
Lieder im Volke selbst. Die Monarchie hatte schon früh unscrn ein-
heimischen Adcl besiegt und beinahe vernichtet, sodaß Norwegen sich
anders als der sonst allgemeine europäische Feudalismus entwickelte.

* Wir cröffnen hiermit eine Rcihe von Aufsätzen, die im Vercin mit
dcn zugehörigen Notcnbeilagen den Herderschen Gedanken weitcrfnhren, den
Charakter der Nationcn in ihren Liedern vcrständlich zu machen. Es ist be-
absichtigt, von nun an etwa in jedem Jahre vier solcher Aussätze ncben
Liedcrproben in Wort und Weise zu bringen.

h Februarheft lst06 H7A
 
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