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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 7 (1. Januarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Verstehen und Nacherleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0016
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Iahrg.22 Erstes Ianuarheft 19O9 Hest7

Verstehen rrnd nacherleben

ürde doch das Wort „verstehen" in unseren Schul- und Hoch-
D ^schulsälen, in unsern Zeitungen, in unsern Gesprächen überall

dort, wo wir von Kunst reden, seltener! Nichts hat in Dingen
der Kunst soviel Mißverstehen in unsre Köpfe gebracht, wie dieses
Wort „verstehen". Aber auch den Klarsten unter uns wird das Ver-
zichten darauf erschrecklich schwer, denn wir selbst sind damit aufge-
päppelt worden. Verstehen und Nacherleben sind zweierlei. Vergegen-
wärtigen wir uns zunächst einmal an ein paar einfachen Beispielen
den Unterschied.

Wir blicken auf Dürers „Ritter, Tod und Teufel". Herbstlandschaft,
und es ist noch weit bis hinauf zur festen Burg dort hinten. herbst-
landschaft, und der Tod spielt mit den dürren Asten und zupft ihre
verhungernden Wurzeln kahl. Da liegt ein Schädel, und da rechts
— was klingelt unheimlich wie ein Sterbeglöckchen? Ein Klepper
hat's um den Hals, eine Mähre, die plötzlich aus dem Felsdunkel
kommt wie aus Grabesnacht — ho, der Tod sitzt drauf — und zeigt
das Stundenglas. „Komm, Hund, rück dich zur Seitel" Noch einer?
Du Scheusal du, du bist der Teufel! Auch gut — ob du schnell
wieder zur Hölle fährst oder hier Maulaffen feilhältst — was schierst
du mich? Was schiert ihr beide mich? „Laß kommen die Höll,
mit mir zu streiten, Ich will durch Tod und Teufel reiten!" Gerad-
aus den Blick — und wegen euch Lumpengesindel mach ich noch
lang nicht einmal Galopp.

So ungefähr ist die Stimmung. Erlebst du sie vor dem Blatte
nicht nach, fo hast du sein Innerstes nicht erfaßt, seinen letzten
seelischen Gehalt. Unternimm dann die verzwicktesten Forschungen,
Vergleichungen, Betrachtungen darüber, zu seinem Lebenswert
kommst du nicht. Damit ist nicht gesagt, daß solch andre Betrach-
tungen wertlos wären. Wie Dürers Geist hier die Gestalten, die
Massen geordnet, wie sein Auge Licht und Schatten und die Linien
gesehn, wie seine Hand hier die Instrumente bewegt hat, das zu ver-
folgen gibt nicht nur dem Verstaude interessante Arbeit, es kann
auch starken ästhetischen Genuß verschaffen. Aber immerhin einen
Genuß an Nebensachen, denn sie bleiben nur Mittel zum Zweck,
sind Weg, nicht Ziel. Wer nicht nur ahnen, wer auch erkennen will,
was bei diesen Dürerschen Bildern der eigentliche Beweger war, kann
das in unserm Falle auch; er braucht nur des Meisters Studie eines
„Ritters in Zeittracht" zu vergleichen, so sieht er den Leib dieser
Reitergestalt, ehe der Geist ihr die Seele einblies.* Man kann noch
weiter der Frage nachgehn, wodurch wohl in Dürer der tote Vesitz
dieser Studie auflebte, die anderthalb Iahrzehnte älter ist, dann wird

* Die Meisterbilder-Ausgabe des Blattes bringt jene Handzeichnung
auf dcm Amschlag abgebildet.
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i- Ianuarheft chOst j
 
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