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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0250
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schicht zusammenhalten solleu, zu
inneren Verknüpfungen zu machen,
es bleibt bei eincm Nebeneinander,
etwa wie im „Fuhrmann Hen-
schel" zwischen Siebenhaar und
seinen Kellerbewohnern, ja die Un°
geschiälichkeit der Szenenführung,
das immer wiederholte Vcrstecken
der Personen vor andern, die da-
zukommen, aber isoliert bleiben
müsscn, das unmotivierte Kom-
men und Gehcn wird durch diese
ungleiche Nachbarschaft eher noch
vergröbert. Der ganze dritte Akt,
den Hassenreuter mit seinen Schü-
lern beherrscht, ist im Grunde nur
weitausgesponnene Episode. Ein
dramatisches Organisationstalent
würde, was davon für die innere,
eigentliche Handlung wichtig, be-
quem im zweiten und vierten zwi-
schen den Szenen haben geben kön-
nen, vorausgeseht, daß es nicht
überhaupt mit drei Aufzügen aus-
gekommen wäre. Damit soll nicht
gesagt sein, daß Lieser bombastisch
gespreizte und doch auf feiner
menschlich-geistiger Linie gehaltene
Theaterdirektor eine unergicbige
Figur wäre. Im Gcgenteil! Aber
sie beansprucht für ihre im Dienst
der beherrschenden dramatischen
Idee nötigen Funktionen viel zu
viel Raum, und was schlimm ist:
bei der Ausmünzung dieses Me-
talls gerät Hauptmann in die Ge»
sellschaft schnellfertiger Possenma-
cher, die sich einbilden dürfen, dies
ebenso gut oder besser zu könuen als
er. Die Schatten der „Iungfern
vom Bischofsberg" werden wieder
wach, und man ist froh, wenn die
naturalistische „Muse aus der
Mulackstraße", wie der ganz noch
im erhabcncn Gocthe-Schillerschcn
Tragödienstil webcnde Theater-
direktor die Frau Maurerpolier
nenut, wieder die Führung übcr-
nimmt, mag sich das billige Lachen
derer, die „partout" amüsiert sein

wollen, auch noch so verliebt an
den anüern Figuren festklammern.

Warum eine Tragikomödie die-
ses Verlaufs „Die Ratten" heißt,
ist nicht leicht zu sagen, obwohl
Hauptmann mehrmals einen An°
lauf nimmt, den Titel symbolisch
zu erklären. Soviel wird klar:
der Dichter denkt dabei an das zer-
störerische Ungeziefer, das sein
unterirdisches Wesen wühlend, na°
gend, zerfressend unterm Boden
unsres Daseins treibt, und den
Bau unsers Glückes zu Fall
bringt, wcnn wir uns nicht recht-
zeitig vorsehn. Der brave Maurer-
polier erlebt das an dem verlump-
ten Bruder seiner Frau; dem Di-
rektor, der mit seinem Theater-
fundus unter einem Dache mit
Krethi und Plethi, Dirnen, schwe-
ren Iungen und anderm losen Ge°
sindel haust, nagten die Biester viel-
leicht die „süße Seide" an, sein Bestes,
seine Tochter, wenn ein guter
Stern ihn nicht noch im rechten
Augenblick aus dem unterirdischen
Dasein, dem der ehemalige Theater-
gewaltige halb und halb schon ver-
fallen, durch Wiedereinsetzung in sein
altes Amt dem oberirdischen zu°
rückgäbe und mit ihm auch den
nichts weniger denn robusten Ge-
liebten seiner Tochter, der vorher
schon gefährliche Bekanntschaft mit
Volksküche und nächtlichen Tier-
gartenbänken gemacht hatte.

Hauptmann hatte bei der ersten
Ausfahrt dieses Stückes eine
Bundesgenossin, die nicht vergessen
werden darf: Else Lehmann,
die Darstellerin der Iette Iohn.
Ihr war eine schwere, schwere Last
aufgebürdet. Sie sollte in ange-
maßter Mutterschaft glaubhaft und
ergreifend machen, was man für
gewöhnlich nur der echten, natür-
lichen zugesteht; sie sollte über Lug
und Trug, Zärtlichkeit und Hin-
gebung, Gefühlsseligkeit und krimi-

h Februarheft IM 203
 
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