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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0249
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aller Energie eines robusten Ge--
wissens zusanrmen: das Kind muß
ihr bleiben, es wird Gras über
das Verbrechen und seine Zu--
sammenhänge wachsen, ihr Glück
wird sich behaupten. Aber die
Entdeckung des Betruges, einmal
in den Händen der Polizei, schrei-
tet weiter fort. Es kommt alles
an den Tag, es nützt kein Leug-
nen und Versteckspielen mehr. Ihr
Mann, den sie mit dem Kinde
halten, von neuem fester denn zu-
vor an sich unü das Haus fesseln
wollte, wendet sich, in seinem Rein-
lichkeitsbedürfnis ins Innerste an--
geekelt, von ihr ab; das Kind, das
sie in der Raserei ihrer Verzweif-
lung an sich zu nehmen sucht, wird
ihr im letzten Augenblick entrissen.
So stürmt sie allein davon, schein-
bar um ein schnelles Ende mit
sich zu machen, während die Rufe
des Mannes: „Mutter! Mutter!
Iebt uf Muttern acht!" ihr ver-
geblich nachhallen. Das letzte
Wort spricht — nicht in der Buch-
ausgabe, aber in der Bühnenform
— eine gutmütige, zum Frieden-
stiften herbeigeeilte Bürgersfrau,
die eben selbst vor dem Schicksal
steht, ihr blutjunges Töchterchen
wider ihre bessere Einsicht an einen
Sei- und Habenichts zu verliercn:
„Was weiß denn so ein Mann,
was eine Mutter ist!"

Auf dieses Gefühl ist das Stück
in seiner Grundmelodie gestimmt,
ihm verdankt es seine tieferen seeli-
schen und allgemein menschlichen
Schönheiten — Schönheiten, die so
zäh, ungefüge und spröde sind, daß
sie aus der Schale nicht recht her-
auskommen, die uns aber dennoch
mit ihrem erschreckend nahen und
heißen Lebensodem mehr als ein-
mal bange Schauer über Haut
und Herz jagen. Was die unselige
Rose Bernd zum Vernichtungs»
wahnsinn gegen ihr eigen Fleisch

und Blut trieb, das facht in einem
andern Alter, einer andern sozia-
len Lage unü einer andern Um°
gebung, abcr aus eng verwandtem
Gefühl heraus diese Iette Iohn,
geb. Mechelke, zu einem nicht min-
der unglückseligcn Erretter- und Er°
halterwahnsinn an. Warum aber
sollte aus diesem Stoff durchaus
eine Tragikomödie werdcn? Hat
Hauptmann inzwischen die straffe
Spannkraft des dramatischen Wil-
lens eingebüßt, solche „Lebens-
sachen" zu einem aufrechtcn, fcsten
und runden Stamm aufwachsen zu
lassen? Wenn man von diesem
Stück auf die Reihe seiner letzten
Dramen zurück- und auf seinen
Ehristusroman hinüberblickt, ent-
steht die einstweilen noch aus
Furcht und Hoffnung gcmischte
Empfindung, er verliere mehr nnd
mehr das eindeutige zielbewußte
Sehen und Gestalten des Dramati-
kers und bilde dafür mehr und
mehr jene epische Kunst in sich
aus, die Menschen und Dinge fra-
gcnd, prüfend, wägend zuglcich von
verschiedenen Seiten zu bctrach-
ten liebt.

Hier, in dieser Berlincr Tragi-
komödie, die nur äußerlich an den
„Biberpclz" und seine stumpfere
Fortsetzung anknüpft, ist fast aller
humoristischer Saft in die Neben-
schößlinge eincr allzu breit vcr-
zweigten Episodenhandlung ge-
strömt. Die Tragödie der erschwin-
delten Mutterschaft hat von diesem
Humor kaum noch etwas abbckom-
men; er wird aufgesogcn von der
nur lose damit verbundenen pa-
thetisch-burlesken Parallel- und
Kontrasthandlung, die in dem che-
maligen Theaterdirektor Harro Has-
senreuter und seinem Anhang ihrcn
Brennpnnkt findet. So sehr sich
Hauptmann bemüht haben mag, die
äußeren Fäden, die jene soziale
Unterschicht und diese soziale Ober-

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