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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Avenarius, Ferdinand: Gegen die Farbendrucke
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Stadelmann, Heinrich: Das Pathologische im Kunstwerk, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0212
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tzäusergruppen zu großen, einheitlicheu ruhigen Stimmungen. An
Originalen der Kunst, an Äbersetzungen der Originale. Am Hinein--
sehen der Farbigkeit mit nachbildenderPhantasiein materiell
farblose aber lichtreiche und lichtfeine Nachbildungen. Vor allem,
nochmals und immer wieder: an der Natur. A

M

Das Pathologische im Kunstwerk*

I. Das Seelischc

»ittcn iu einer Fülle von Vorgängen steht der einzelne Mensch
in der Welt, die ihn von allen Seiten her berührt. Er nimmt
'auf, was sie ihm zuträgt. Durch das Auge ziehen Lichtstrahlen
ein, die von den beleuchteten Gegenständen zurückgeworfen werden, und
bewirken Farbensehen; das Ohr vermittelt die Schwingungen der Luft
als Töne usw. Durch die Sinne zieht die Welt ein in des Menschen
Seele. Dort spiegelt sie sich wider in geistigen Bildern, in V o r--
stelluugen. Daß diese Bilder der Welt lebendig werden in der
Seele, dafür sorgt das G e f ü h l. Das Gefühl bewertet die geistigen
Bilder und wird uns Veranlassung zum Handeln. Da aber jeder Mensch
andcrs veranlagt ist und andre Lrinnerungen hat, entsteht in jedem
ein besondcres geistiges Bild, das auch in jedem Falle ein besondres
Gefühl hervorbringt. So bildet sich der einzelne seine besondre geistige
Welt: aber alle Menschen müssen sie nach gleicher Gesetzmäßig-
keit bilden.

Eine Blume steht vor uns. Wir sehen sie und riechen ihren Duft.
In der Seele entsteht das geistige Bild dieser Blume. Das Gefühl be°
wertet dieses geistige Bild, und wir sagen: „diese Vlume ist schön" odcr
„sie ist nicht schön". Naturwisscnschaftlich gesprochen heißt dies für das
Sehen: Lichtwellen gehen von der Blume in unser Auge, pflanzen sich
von dort aus in irgendeiner Weise weiter sort und dringen bis zu den
Gehirnzellen vor. Dort entsteht das geistige Bild der von uns ge°
seheneu Blume, und es wird zugleich ein Gefühl erzeugt. Das geistige
Bild mit dem ihm beigegebenen Wert verlegen wir nach außen. Nun
können wir sagen: vor uns steht eine Blume; sie ist schön oder nicht
schön.

Die geistigen Bilder in uns werden unser Eigentum; sie schließen
sich zusammen zu einem großen Komplexe, zu der Erfahrung. Änd
insofern diese Summe von geistigen Inhalten durch das Gefühl in uns
lebendig geworden ist, stellt dieser Komplex das geistige Ich des Menschen
vor. Die in der Seele sich widerspiegelnde Welt samt den Gefühlen
formt sich zu einer Einheit; zu einer Einheit, die lebendig ist; und
weil sie lebendig ist, gibt sie stets ab und nimmt stets auf und ver-
ändert die Stellung der einzelnen Bilder zueinander, wie cine Pflanze
ihre einheitliche Form bildet durch stetes Aufnehmen, Abgeben und Äm-
setzen von Kräften und Stoffen.

* Die Wichtigkeit, die das Vorkommen pathologischer Elemente in
Kunstwerken nachgerade erhalten hat, rechtfertigt wohl, daß wir zur Aus-
sprache über den Gegenstand hiermit einem Pshchiater das Wort
geben. K.-L.

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Kunstwart XXIV, 9
 
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