Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1911)
DOI Artikel:
Stadelmann, Heinrich: Das Pathologische im Kunstwerk, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0213
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Dies vollzicht sich bei jedem Menschen, der als bewußter Teilnehmer
an den Dingen der Welt sich unter ihnen bewegt.

2. Das seelisch Pathologische

Wenn das Leben und Wachsen des geistigen Ichs gcstört wird, ver°
ändcrt dieses Ich seine Form; es treten Wucherungen, Verkrümmungcn
und Verschiebungen auf an den Vorstellungen und an den Gefühlcn.
Das geistige Ich leidet Linbuße in seiner Einheitlichkeit. Diese Aus-
wüchse, Ausfälle und Verkehrtheiten nennen wir pathologisch, das heißt
krank.

Die geistigen Bilder treten aus dem geschlossenen Ich zu weit heraus;
sie lösen sich los, und entziehen sich der Kontrolle seitens der zurück-
bleibenden Bilder der Erfahrung. Sie verändern ihre Form; sie binden
sich nicht mehr an die zugehörigen räumlichen Maße und zeitlichen
Einteilungen; sie vermischen sich mit Teilen andrer Bilder. So werden
die Vorstellungen der normalen Seele zu Halluzinationen und zu
Illusionen.

Die H a l l u z in a t io n ist ein aus dem Ganzen sich vordrängendes
seelisches Bild, das nach außen verlegt wird. Wer halluziniert, nimmt
um sich wahr, was in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Er sieht Ge-
stalten und hört Töne, die es für die Wahrnehmung andrer Menschen
nicht gibt. Unter Illusion verstehen wir die Umgestaltung eines
wirklich vorhandenen Dinges zu einem Trugbilde, zum Beispiel wenn
ein Vorhang im Zimmer für eine leibhaftige Gestalt angesehen wird.
Halluzination und Illusion sind also insofern voneinander verschieden,
als bei der ersteren das seelische Bild ohne äußere Veranlassung aus
der Phantasie in die Welt der Wirklichkeit verlegt wird, während die
Illusion durch irgendein wirkliches Ding veranlaßt ist.

Die normalen Täuschungen unterscheiden sich von den pathologischen
dadurch, daß die Täuschung durch eine Kontrolle mittels der Sinne
odcr dcs Denkens schnell aufgehoben wird.

Die Halluzinationen und die Illusionen zeigen meist aus verschiedenen
seelischen Bildcrn zusammcngestellte wundersame und oft abenteuerliche
Gestalten und Situationen. In der Zeit des Halluzinierens ist die scelische
Einheit eines Ichs krankhaft verändert; ein Teil der Erfahrung ist aus-
geschaltet.

Ahnlich wie mit den geistigen Bildern verhält es sich mit den Ge°
fühlen. Hcbt sich ein Gefühl im Lebensprozeß der Seele zu weit heraus
aus dem einhcitlichen Ich, dann ist eine Äberfeinfühligkeit da.
Dieser stcht die Gefühllosigkeit gegenüber. Zwischen beiden liegt
das pervcrse Gefühl. Wenn nämlich das Gefühl den Wcrt einer
Sache zu sehr auf die Spitzc getrieben hat, dann verkehrt sich dieser Wert
leicht in das Gegeuteil, und es entsteht der „Perverswcrt". Aus der
Bejahung wird die Verneinung.

Aber selbst wenn die Äberfeinfühligkeit bis zur ekstatischen Erregung
steigt, dic nur noch göttliche Werte fühlt — im gewöhnlichen Leben sind
wir selbst dann nicht lcicht gcneigt, etwas Pathologisches zu erblickcn.
Deshalb nicht, wcil es sich hier immer noch um eine Lebensbejahung
handelt, wcnn auch im Ertrcm der Lust. Erst wenn dieses hochgehobcne
Gefühl sich auf seiner Höhe ins Gegenteil verkehrt, wenn es jäh stürzt

l. Februarheft Wl l67
 
Annotationen