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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 10 (2. Feburarheft 1911)
DOI Artikel:
Ullmann, Hermann: Die Gebildeten und das Volk
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0289
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Iahrg. 24 Zweites Februarheft 1911 Heft 10

Die GebildeLen und das Volk

or hundert Iahren haben Fichte und Arndt das Thema auf-
( genommen. Es ist, wenn auch gewandelt, noch so neu wie
damals. Wir sind noch immer eine werdende Nation. Die
äußere Einigung konnte uns unmöglich mit einem Male die innere
Organisation einer Volkseinheit geben. Noch immer strömt das Blut
im Volkskörper nicht ohne Stockungen, Hemmungen drängen sich
zwischen Gehirn und Glieder, reiche Kräfte werden vergeudet und
gesunde Antriebe unterdrückt.

„Sind solche Organisationsfehler je ganz zn beseitigen? Fehlcn
sie in irgendeinem Volke?" Den Gelassenen, die so fragen, stehen
auf der anderen Seite Meinungen gegenüber, wie: es bleibe gar keine
Wahl und kein Bedenken mehr, es müßten alle Kräfte aufgeboten
werden, um jenen Organisationsfehlern zu begegnen, das deutsche
Leben sei von den schwersten Krisen bedroht. Wir werden gut tun,
von jenen Gelassenen das feste Vertrauen auf die Natur und ihre
gesunden Wege, im bcsonderen auf die ungebrochene Kraft unsres
Volkstums zu nehmen, von diesen Angeduldigen aber den starken
Willen, vorwärts zu kommen. Dann werden wir mit Energie arbeiten,
ohne doch zu hasten oder zu überstürzen.

Vor hundert Iahren, als eben eine erlauchte deutsche Geisteskultur
ihre höchste Reife und Vollendung erreicht hatte, klagte man darüber,
wie wenige und spärlich begangene Wege von den Höhen in die
Niederungen des Volkes und aus den Tälern wiederum zur Bildung
führten. Ünd man sah schon damals zwei Folgen aus dieser Trennung
erwachsen: man sah das Volk in Dumpfheit Kräfte vergeuden; und
die Bildnng in ihrer Vereinsamung an Halt, Treue und innerer
Wahrhaftigkeit verlieren. Eines hätte dem andern dienen, eines durch
das andre erst zur vollen Wirksamkeit kommen sollen; die Bildung
mußte den frischen Kräften drunten Ziel und Form geben, das Volk
dem geistigen Leben Inhalt und Wirksamkeit. Statt dessen standen
sie sich fremd und feindlich gegenüber, und die Nation, die gerade
in jenen Tagen großen gemeinsamen Handelns zum ersten Male sich
als Einheit fühlte, litt darunter.

Seitdem sind viele einigende Erlebnisse, aber auch neue trennende
hinzugekommen. Gerade die Einigung des Reichs und die weitere
Ausbreitung der politischen Rechte brachten zunächst Bildung und
Volk einander durchaus nicht näher. Zunächst führten vielmehr die
neuen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in ein wüstes Chaos:
es wurde uns unter besonders harten Bedingungen die Aufgabe
gestellt, ein Volk zu werden. Die Grenzen zwischen „oben" und „unten"
wurden zwar nicht aufgchoben, wohl aber verwirrt und zum Teil
wohl auch gefälscht. Auf ein, zwei Generationen stand und steht viel
Unbildung „oben" und mancherlei Bildung „unten" — dank der
besonderen Kriegsverhältnisse, in denen die Börsen- und Grund-
spekulationsfortuna oft recht willkürlich schaltete. Gute und beste

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