Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1911)
DOI Artikel:
Bonus, Arthur: Vom Spannungsbedürfnis: ein Kapitel vom Wesen und Nutzen der Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0452
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom Spannungsbedürfnis

Ein Kapitel vom Wesen und Nutzen der Kunst

as bedeutet eigentlich das Spannungsbedürfnis, das alle ganz
^beherrscht, welche Anfänger in künstlerischer Aufnahme sind?

Nicht nur die Leser unsrer Hintertreppenromane, sondern auch
die Landbevölkerung und unsre Kinder, welche sich Indianergeschichten
borgen, alle also, die naiv und unverwöhnt sind? Ist es wirklich, wie
uns unaufhörlich versichert wird, ein völlig außerkünstlerisches Element,
das nur mißbräuchlich in die Kunst hineingebracht wird?, das die
hehre zur Befriedigung niederer Instinkte vergewaltigt?

Ich glaube nicht, ich glaube, daß dieses Bedürfnis vielmehr der
erste primitive Zustand des wirklichen künstlerischen Formverlangens
ist, das in gerader Linie bis in die höchste Kunst hineinführt.

Die Kunst ist nicht etwas Isoliertes, das beim einen da ist und
beim andern nicht. Sie liegt mit den ihr entsprechenden Bedürfnissen
ebenso wie Sittlichkeit, Wissenschaft, Religion, Recht und alle anderen
Außerungen menschlichen Geisteslebens in den primitiven Lebens-
bedürfnissen mit eingewickelt, — oder vielmehr: sie hat sich aus
ihnen herausgewickelt.

Das Formverlangen scheint mir einer der allerwichtigsten unter
den höheren Instinkten des Menschseins zu sein. Das Verlangen,
geschlossene Formen zu erkennen, Zusammenhänge, Gruppierungen,
Entsprechungen.

Akan muß bedenken, daß weder das Auge von Natur Formen
sieht, noch das Ohr Töne oder gar Melodien hört, noch die blinde
Hand Gestalten ertastet, noch auch von Natur unser Bewußtsein sie
erlebt. Das ist alles erst Erwerbung, Erwerbung urlanger Zeiten, die
durch die Welt aller Wesen aufwärts steigend sich vermehrt und erhöht,
um vom Menschen in gedrängtem Kindererleben nachgeholt und dann
weitergeführt zu werden.

Es gibt auch kaum etwas, das notwendiger für ihn wäre, als dies:
in die ununterbrochene Flut der Erscheinungen, der Töne und Ereig-
nisse ((die ihm noch nicht Erscheinungen, Töne oder Ereignisse sind,
sondern ununterscheidbar sich bewegende Masse, etwas, wie Wasser
oder wie Sumpf, das ihm den Atem versetzt), — in dieses Fluten,
Rauschen, Ziehen Zusammengehöriges hineinzuerkennen und vom
andern zu sondern, gewissermaßen, damit Pausen oder Lücken zum
Atemholen entstehen.

Wir wollen das Werden dieses Instinktes nicht des näheren zu ent-
ziffern, auch nicht die Darwinsche Doktorfrage zu lösen suchen, ob mehr
Not oder mehr Lust, mehr Haß oder mehr Liebe ihn geschaffen habe.
(Es gibt wenige Dinge, die aus einer Nrsache entstehen.)

Noch weniger wollen wir darüber philosophieren, ob wir in diesem
Formverlangen etwas schlechthin Nrsprüngliches oder etwas allmäh-
lich Erworbenes haben: gewiß ist, daß es für den Menschen, zumal
für sein Kulturleben ein fest angeeigneter Instinkt ist, den in Frage
zu stellen den Menschen selbst in Frage stellen hieße.

Dies scheint sich erkennen zu lassen: daß das, was wir künstlerisch
im engeren Sinne nennen, jedenfalls erst da beginnt, wo ein gewisser

2. Märzheft M 367
 
Annotationen