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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 12 (2. Märzheft 1911)
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Bonus, Arthur: Vom Spannungsbedürfnis: ein Kapitel vom Wesen und Nutzen der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0453
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Äberschuß von Kräften da ist, — eine gewisse Lust am freien Treiben
der Elemente, die sonst im Ioch ziehen mußten. Da also, wo der
Mensch das Bedürfnis fühlte, anderes zu sehen, als was er sehen
mußte, um sich zu wehren, und anderes zu erkennen, als was er er-
kennen mußte, um sich richtig einzurichteu.

Vielleicht noch wichtiger als der Gesichtspunkt des reinen Frei-
werdens ist der Gesichtspunkt des neuen Zwanges, der den solcher
Art Freigewordenen zu neuer Gestaltung aufruft. Und beides erst
zusammen ergibt die künstlerische Lebensluft dieses eigentümlichen
Doppelgefühls von Freiheit und Zwang, dieses Bewußtsein des Schöp-
ferischen, das ein Freisein von der krassen Not in neuer zehrender
frei empfundener Not ist. — In dem Vibrieren, in dieser — wenn
man will — elektrischen Spannung zwischen Freiheit nach unten und
Zwang nach oben zu äußert sich erst das eigentlich künstlerische Gefühl.

Dennoch bleibt das Freisein vom nächsten äußeren Zwang kon-
stituierend. Es kann ein Künstler dem inneren Zwange unter-
liegen, etwas darzustellen, das er verabscheut, etwas Häßliches, Grau-
sames, Schreckliches. Er unterliegt aber nicht dem Zwange, es in der-
jenigen Nndeutlichkeit, Zufälligkeit oder Gleichgewichtlosigkeit darzu-
stellen, die es im Leben mitunter hat, nur aus dem Grunde, weil er
es „in Wirklichkeit" so gesehen hat. Denn das Zufällige, Nndeutliche,
Gleichgewichtlose ist eben das, was die Wirklichkeit dem Menschen
wider seinen Willen antut, was bei der Aufnahme der Wirklichkeit
in den menschlichen Geist nicht angeeignet werden konnte, was unge-
formt zurückblieb, das, dem gegenüber der Mensch unfrei blieb.

Es kann in der Wirklichkeit vorkommen, daß man im Grase liegend
die Aussicht auf einen blankgewichsten Stiefel uird das Ende eines
Hosenbeines genießt; es kann aber dem Bildhauer nicht zustoßen,
dies gleichgewichtlose Stück Wirklichkeit als Skulptur uachzugestalteu.
Es kann im Leben geschehen, daß ein merkwürdig zugespitztes Schicksal
durch den Tod zerschnitten wird, statt eine Lösung zu erfahren. Es
kann aber dem Künstler nicht geschehen, daß er eine gut aufgebaute
Lebensdarstellung an irgendeinem zufälligen Punkt mitten in der
Verwicklung abbricht, nur weil das in Wirklichkeit so vorkommeu kaun.

Wir sehen also, die Freiheit des Künstlers bedeutet vor allem die
Freiheit seines Formgefühls von der Wirklichkeit, von der es wohl
angeregt, aber nie befriedigt wird.

In welche Forderungen sich nun das Formverlangen im einzelnen
umsetzt, das wird für die verschiedenen Gebiete, deren es sich be-
mächtigen kann, sehr verschieden sein und von der Natur des Gebietes
abhängen. Die künstlerischen Elementargesetze werden andere sein
auf dem Gebiet des Sehens, als auf dem der Töne oder dem des
mitteilenden Wortes.

Immerhin werden gewisse Grundzüge wiederkehren. So vor allem
das Gesetz der Einheit und Geschlossenheit des Kunstwerks. Erst hier-
durch löst es sich völlig als ein Stück Freiheit aus der Flut der Töne,
der Gesichte und der Mitteilungen los, die uns zwangsweise umgibt.

Diese Einheit nun wird auf dem Gebiet der Erzählung am elemen-
tarsten und wirksamsten (wenn auch plump), durch die Spannung ge-
schaffen, die den Leser oder Hörer zwingt, die Geschichte als abge-

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