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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 17
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Stapel, Wilhelm: Fichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0329
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Argernis und eine Torheit sind; den treibt es vor das Angesicht
aller, und das Volk fühlt seine Kraft. Aber das innere Gesicht
seiner Worte versteht es nicht. Es hört einen Propheten und
verkennt ihn im Vaterlande. Solche Propheten sind die härtesten
und schroffsten Individualisten, unbeugsam vor Thronen und Mehr--
heiten. A.nd doch gilt ihnen das eigene Ich mit seinen schwankenden
Stimmungen und Wünschen nichts, sie fühlen sich als Kündiger von
Notwendigkeiten. Woran soll man sie erkennen? Die meisten
erkennen sie nicht. Wer feinere Ohren hat, merkt den Edelmetall--
klang der „Echtheit", der Arsprünglichkeit in ihrer Rede, der sie von
den bloßen Kritikern und Reformern unterscheidet.

Das Auftreten eines solchen Mannes steht in einem inneren
Zusammenhang mit den Geschicken seines Volks. Diese Schicksale
mit ihren vorbereitenden und folgenden seelischen Wandlungen er--
zeugen die besondere Art der Erregung, welche das einzelne Ich
dazu treibt, sich nicht nur selbst zu vertiefen, sondern zugleich im
Zusammenhang mit all den Mitleidenden, Mitbedrohten, Mit--
sündern zu fühlen. Nur ein drohender oder hereinbrechender Welt--
sturm rechtfertigt die Erscheinung eines solchen Ichs und gibt seinem
Dasein Sinn. Dem rückschauenden Blick stellt es sich so dar, daß
der Prophet der geistige Gegenspieler ist gegen einen der gewalt--
samen Tatmenschen, die von Zeit zu Zeit die Völker und Staaten--
gebilde erschüttern. War es etwa nur ein rein subjektiver Grund,
der den Bauern von Tekoa wegtrieb von seiner Herde und seinen
Obstbäumen in das Heiligtum zu Betel, um von den Despoten Assurs
zu weissagen? War es nur ein enges, persönliches Erlebnis, was
Ieremia sich erheben ließ, um zu warnen vor dem Gewitter von
Babylon, vor Nabukudrossor, vor den „umdämmerten Bergen, vor
dem erhofften Licht, das zu Nacht wird und zu Wolkendunkel" ?
Was Demosthenes voll göttlicher Leidenschaft — nicht nur mit atti--
scher Rhetorik — wider Alexander von Mazedonien trieb? And
dürfen wir nicht fragen, ob nur ein subjektives Motiv, nur ein
„Zufall" das erste von soundso vielen Kindern eines Lausitzer
Leinewebers aus seinem Dorfe hervor in den vollen Strom der
Welt stellte und ihm gab, in mächtigen Visionen das napoleonische
Zeitalter zu deuten und zu reden von der Zeit, die über ihren Leichnam
sich erhebt wie die Seele des Gestorbenen zu einer neuen Sonne?

Ans mutet die Geschichtskonstruktion Fichtes seltsam an: dort die
Welt der Selbstsucht und Finsternis, die Welt der „Barbaren", hier
die Welt der sittlichen Freiheit, in welcher der göttliche Wille regiert,
die Welt der „Deutschen". Die Selbstsucht nimmt in Napoleon alle
Kraft ihrer Kraftlosigkeit zusammen, um das Göttliche zu vernich--
ten, aber sie muß sich in sich selbst verzehren. Sie muß es, denn
sie ist durch ihr Wesen dazu bestimmt. Wir schütteln wohl den
Kopf zu diesem „Unsinn". Aber hören wir das von ihm selbst
vorgetragen, so liegt etwas Bezwingendes in dem festen Schritt seiner
Worte. Nnd — derselbe Mensch, der das sagt, ist als Gelehrter
einer der klarsten und schärfsten Denker. Auch hat er als Mensch
bei allem Starrsinn ein feines Gefühl für Takt und Würde. Phan--
tasterei oder Scharlatanerei lag ihm weltenfern. Das Allerseltsamste

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