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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 17
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Stapel, Wilhelm: Fichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0330
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an dieser Erscheinung aber ist: der Mann, der das deutsche Volk als
das auserwählte Volk Gottes bezeichnet, ist seiner philosophischen
Aberzeugung nach Weltbürger. Warum stellte er sich zu Na--
poleon und den Franzosen nicht wie so viele andere Weltbürger
seiner Zeit: gleichgültig oder bewnndernd? Warum nahm er die
Unterwerfung Preußens nicht einsach hin als eine Neuordnung der
Dinge? Lr fühlte bis ins Innerste die Schmach der deutschen
Knechtschaft. Er gab sich das Wort, nicht auf einem Boden mit
dem siegreichen Feind zu stehn, er floh durch Pommern nach Königs--
berg, und als die Franzosen auch dorthin drangen, nach Memel
und Kopenhagen. Erst als der Friede geschlossen war, glaubte er
sich vou seinem Wort entbunden und kehrte nach Berlin zurück.
All diese Zeit lebte er in dem Bewußtsein: der preußische Gedanke,
mit dem du von Ort zu Orte fliehst, ist die im chaotischen Sturme
slackernde, verlöschende Flamme des göttlichen Lebens, daran das
Schicksal aller Völker hängt; der Kahn, in dem du stehst, der von
den Wogen durch die Nacht hin und her geworfen wird, ist die
Rettung der Menschheit, und wenn er zerschellt, ist keine Rettung für
die Menschheit mehr. Nur einen Augenblick wandelt ihn Schwäche
an; als er die Nachricht vom Tilsiter Frieden erhält, schreibt er an
seine Frau: „Gottes Wege waren diesmal nicht die unsern; ich glaubte,
die deutsche Nation müsse erhalten werden; aber siehe, sie ist aus--
gelöscht!" Der Gedanke eines Augenblicks aber kann seine Äber--
zeugung nicht lange überschatten: die deutsche Nation muß er--
halteu werden. Preußen wiederaufzurichten, ist ihm Gottesdienst.
Darum kehrt er trotz der feindlichen Besatzung in die Hauptstadt
zurück. Nnd hilft — eine Nniversität gründen.

Fichte vermied freilich mit Fleiß das Wort „Nniversität", er sprach
von einer „Akademie". Die bequemen Lehrvorträge, die bloße Aber--
lieferung von Erkenntnissen, die Erzeugung von Wissen allein, kurz
die Methode, die den bestehenden Aniversitäten damals ihr pädago--
gisches Gepräge gab und noch heuts in genau dem Nmfange gibt,
wie sie nicht durch persönliche Veranlagung eines Lehrers oder Schü--
lers und durch den sachlichen Zwang gewisser Disziplinen begrenzt
wird, diese Methode warf er entschlossen beiseite. Die lebendige
menschliche Rede ist ihm zu kostbar für ein bloßes Hersagen dessen,
was in den Büchern steht oder stehen könnte. Fichte verkennt keines--
wegs den Wert der wissenschaftlichen Erkenntnis rein als solcher,
verkennt auch nicht den Zweck einer Akademie, der letzten Endes
doch dieser ist: die Erkenntniswahrheiten herauszustellen, diesen kost-
baren Schatz der Menschheit zu mehren und zu Pflegen. Aber das
Wissen von Erkenntniswahrheiten ist ihm nicht der höchste oder gar
einzige Zweck der einzelnen Menschen. Der Mensch ist ein
handelndes Wesen, und für ihn muß die geistige Aufnahme von
Erkenntnissen stets ein Nachschaffen und Neuschaffen der Erkenntnis
sein. Nicht hinnehmen und ja sagen soll er, sondern sich über--
zeugen. Und ferner, da der Mensch nicht von Erkenntnis allein
lebt, sondern auch von Brot, ist man es seiner Natur schuldig, ihn
zu nehmen und zu erziehen als ein in erster Linie nicht theoretisches,
sondern praktisches Wesen, das ist: als wirklichen Menschen.

b Iuniheft M2 269
 
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