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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 17
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Stapel, Wilhelm: Fichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0326
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Iahrg. 25 Erstes Iuniheft 1912 Heft 17

Fichte

>---^ichte nannte seine Zeit das „Zeitalter der Selbstsncht". Uns er--
^V scheint diese wegwerfende Charakteristik zunächst mürrisch und un--
gerecht, denn wir sind gewohnt, jene Iahrzehnte des deutschen
Klassizismus und der anbrechendeu Romantik, die wir schlechthin als
„die Blütezeit unsrer Literatur" zu bezeichnen pflegen, für eine große
Zeit zu halten. Sprechen wir nur fünf Namen aus: Goethe, Schiller,
Kant, Fichte, Schleiermacher, und lassen wir im Geiste an uns vor--
überziehen, welche Fülle persönlichkeitsreicher Gestalten sie umgibt
— das alles war damals lebend, denkend, wollend, schaffend, wirkend.
Das alles trieb damals die Menschheitsentwicklung mit gewaltiger
Kraftanstrengung in eine neue Sphäre geistigen Seins. Und dennoch
sagte einer, der nicht als der letzte dabei geholfen hat: unsre Zeit ist
eine erbärmliche Zeit.

Wir sehen heut meist nur die granitnen Gipfel des Gebirges,
das damals von vulkanischen Kräften emporgetrieben wurde, und
vergessen, wieviel Sumpf sich um ihre Füße breitete. Nur hin und
wieder erinnert uns das Aneinanderprallen eines der Großen mit
den öffentlichen Gewalten daran, wie es damals in der alltäglichen
Wirklichkeit aussah: wenn etwa Kant einem Wöllner weichen mußte,
wenn selbst Karl August vor dem beschränkten und bigotten Dresdner
Oberkonsistorium, das seines Gottes Dasein und Allmacht durch einen
Boykott der Aniversität Iena retten wollte, zurückwich und Fichte
preisgab. In ihren Durchschnittsköpfen verstand jene Zeit nichts
von dem Ewigen, das sich in ihr der ganzen Menschheit offenbarte.
Vergegenwärtigen wir uns: Goethe bildet Gestalten reiner, voller
Menschlichkeit; Schiller erlebt und stellt dar die Idee der freien, in
sich selbst ruhenden Nation; Kant hebt aus der Menschenbrust das
unbedingte „Du sollst!"; Fichte entdeckt im Bewußtsein den tiefsten
Grund aller Wahrheit und hebt die Gottesidee aus dem Bereich der
nur empirischen Daseinswahrheiten, um sie in überzeitlichen Grund
zu pflanzen; Schleiermacher schaut die Fülle der einzelnen Religionen
zusammen in den Kranz der einen, allumspannenden „Gemeinschaft
der Heiligen". Aber all das lebte nur in wenigen Köpfen. Was
waren die Gestalten und Ideen dieser wunderbaren Welt den andern?
Den andern, die die breite Mehrheit bildeten und im Besitz der
materisllen Macht waren? Sie zogen die neuen Ideen, wenn sie über--
haupt versuchten, sie zu erfassen, in ihre staubige Welt hinab und
deuteten sie nach ihrer kleinen Weise. Ließ sich das Neue nicht mit
den ererbten Worten zusammenreimen, so witterten sie Atheismus
und Iakobinertum. Ich sage: mit den ererbten Worten. Denn
auch der Sinn dieser Worte war ihnen verloren gegangen. Wer
den Sinn ererbter Wahrheiten wirklich erlebt, der muß von diesem
Erleben aus den Weg finden zu dem, was sich neu offenbart. Man
konnte ihn nicht finden und sah in dem Neuen etwas Feindliches,

s. Iuniheft M2

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