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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 13 (1. Aprilheft 1912)
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Avenarius, Ferdinand: Auf falschem Geleis?: zwischen Schule und Kaserne
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0014
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Iahrg.25 Erstes Aprilhest 1S12 Heft 13

Auf falschem Geleis?

Zwischen Schule und Kaserne
sich's handelt, davon ist im Kunstwart oft gesprochcn
^>F H«worden. Mit fnnfzehn, ja mit vierzehn Iahren wird der
Knabe aus dem Volke „frei", denn unsre sozialen und volks--
wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich so entwickelt, daß zumal den
von Iahr zu Iahr anwachsenden Massen der Schnlentlassenen, die zur
Fabrik strömen, außerhalb der Arbeitstunden meist jede Leitung, jede
Aufsicht fehlt. Daß sich's hier schon um Reife handle, um erwachsene
Menschen, die vernünstig über sich verfügen können, wird keiner be->
haupten wollen; daß diese Knaben und Mädchen in der Entwicklungs--
periode stehen, deren Verlauf über Gesundheit, Kraft, Glück ihrer Zu°
kunft zu großem Teile entscheidet, das weiß ein jeder. Ehedem war's
auders: die Familie hielt fester, der Lehrherr hielt fester, der Lehrling
blieb in einem Verbande. Mit der Industrialisierung Deutschlands
und der Entwicklung der Großstädte hat sich all das geändert. Von
zehn Mädchen zwischen vierzehn und achtzehn sind mindestens vier, von
zehn Burschen in diesem Alter sind nicht weniger als acht bereits
erwerbstätig. Rnd diese zwei Fünftel der weiblichen, diese vier Fünftel
der männlichen heranwachsenden Iugend sind in der Mehrzahl der Fälle
nur den Einflüssen anheimgegeben, die — Geschäfte mit ihnen machen
wollen. So bildete sich das Problem, das sich für die Burschen am knapp--
sten durch die Worte „zwischen Schule und Kaserne" umschreiben läßt.

Wir philosophierenden Deutschen sind immer in der Gefahr, Ab--
straktionen zu substantivieren. Wir nehmen an den Dingen gemein--
same Eigenschaften wahr, ziehen sie im Geiste ab, und gewöhnen
uns dann an ein Denken, als wären diese Begriffe, diese nnr ge--
dachten Abzüge nun selbständige Kräfte, die irgendwo für sich
existierten und ihrerseits etwas forderten oder bewirkten. Die deutsche
Metaphysik ist an Beispielen für diesen Vorgang reich. Auch mit dem
Gesellschaftsbegriff geht es da und dort so. „Die Gesellschaft verlangt",
„die Gesellschaft hat ein Interesse daran", und man denkt dabei an
den aus den beobachteten Erscheinungen abgezogenen Begriff, als
lebte er für sich, sei an sich interessiert und forderte für sich. Aber
der Begriff „Gesellschaft" ist nur eine Hilfskonstruktion unsres Den-
kens und ist ein Begriff, dessen Inhalt fortwährend wechselt. Die
Summe der Menschen, die in Wechselwirkung zugleich das Produkt
der Menschen ist, ist anders an jedem Tag. Nur in den Einzelnen
lebt das Ganze und nur durch ihre Tüchtigkeit ist es tüchtig, nicht
dnrch den Einfluß irgendeiues früher von Summe und Produkt
dieser Einzelnen abgezogenen Begriffs. Das dürfen wir nicht ver--
gessen, wenn wir auch das neue Problem der Iugendpflege realistisch
sehn, wenn wir uns davor hüten wollen, Abstraktionen von heute
noch Seiendem als Ziele für den Weg in die Zukunft aufzustellen.
Tüchtigen sich die Einzelnen, so wird das Ganze tüchtiger werden,
verkommen sie, wird es verkommen. Selbst der Zwang der Gesetze

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