Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1912)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Politische Außenseiter und die Herrschaft der Besten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0252
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
1 Iahrg. 25 Zweites Maihcst 1912 Hest I6

Politische Außenseiter und^die Herrschaft der Besten

> os von der Parteischablone!" Immer häufiger hört man diesen
H^Ruf; immer peinlicher empfinden viele das Mißverhältnis zwischen
--^'ihren politischen und ihren Kulturidealen und der offiziellen Par--
teipolitik. Aber der Zweifel richtet sich nicht nur gegen die Taktik
oder die Persönlichkeit der Führer, nicht nur gegen die Art, wie die
theoretischen Äberzeugungen in die Praxis umgesetzt werden, sondern
gegen mehr oder minder grundlegende Bestandteile der Programme
selbst. Bilden denn alle die Forderungen und Grundsätze, aus denen
ein konventionelles politisches Programm besteht, eine untrennbare
Einheit, sind sie notwendig miteinander verknüpft? Oder
wäre es nicht an der Zeit, eine Neu-- und Nmgruppierung dieser For--
derungen vorzunehmen? In allen Parteien regen sich solche Neuerer.
Der englische Sozialist Ramsay Mac-°Donald, dessen langes Gespräch
mit dem deutschen Kaiser im vergangenen Iahre viel besprochen wurde,
hat soeben ein Werk über „Sozialismus und Regierung" herausge--
geben, in dem er (wie ein Geleitwort in der „Zukunft" ausführt) zu
beweisen sucht, „daß manche Linrichtung und Maßregel, die für im
besten Sinn demokratisch gilt, die vernünftige Funktion der Volks-
regierung gefährdet, manche andere, die mit der Demokratie unver--
einbar schien, ihr unentbehrlich ist." In der streng konservativen „Deut--
schen Tageszeitung" gipfelt ein sehr vorurteilsfrei geschriebener Auf--
satz eines Grafen Bernstorff über Fürstenerziehung in der Forderung
der „Verschmelzung einer aristokratischen Kultur mit dem demokrati--
schen Geist der neueren Zeit". Und dieser schon oft ausgesprochene
Gedanke von der „Paarung konservativer und liberaler Ideen" kommt
auch in jener neuesten politischen Gründung eines „Kulturkonservati-
vismus" zum Ausdruck, für den Or. Grabowski jüngst (vgl. Kw. XXV, 6)
zu werben versucht hat.

Es ist nicht leicht, über Bestrebungen dieser Art ein Nrteil zu fällen.
Die Grenzlinie zwischen originalen und produktiven Köpfen auf der
einen Seite und Eigenbrödlern und Schwarmgeistern auf der andern
ist niemals mit Sicherheit zu ziehen. Wer heute eine sehr abfällige
Kritik an den Parteiprogrammen übt und alle politischen Forderungen
in ganz neuer Weise mischen möchte, kann vielleicht ein angehender
Reformator sein, der das tzemmende und Kulturwidrige überlebter
Formen klar durchschaut und der die Kraft in sich trägt, Millionen in
ganz neue Bahnen des Denkens und Wertens zu zwingen. Wahr--
scheinlicher ist's aber doch, daß er unter die Vertreter jenes falschen
Individualismus gehört, die über nebensächlichen Differenzen die
Hauptsache, das gemeinsame Ziel, vergessen, die immer das Trennende,
niemals das Verbindende sehen — kurz jener „Individualisten", die in
Deutschland die Bildung einer großen liberalen Partei verhindert
haben. Man redet so gern von „Doktrinarismus", jener Denkweise,
die abstrakten Spekulationen zuliebe die Realitäten des Lebens, vor
allem die Weisheit des lebendig Gewachsenen, organisch Entstandenen

2. Maiheft (9(2 20(
 
Annotationen