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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 17
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Stapel, Wilhelm: Fichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0327
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weil man die Symbole, die man verteidigte, selbst nicht mehr verstand.
Dieselben, die Gott, Vaterlandsliebe, Waffenruhm, Pietät „vertei-
digten" und „stützten", wie bewährten sie diese Ideen im Leben?
Nicht einmal der letzte Wille des großen Friedrich, im Garten von
Sanssouci zu ruhen, galt ihnen etwas, mit Dirnen und Schlemmern
zogen sie in die geweihten Zimmer dort; um Länderfetzen feilschten
und zankten sie zu Rastatt voll widerwärtiger Selbstsucht, und ver-
rieten einander dem Franzosen; vor dem Feinde flohen sie, Festungen
lieferten sie aus ohne Gegenwehr. Ihre alten Ideale waren zu
leeren Worten geworden, und wer sie ihnen wegriß, war „Zer-
malmer" und „Nmstürzler". Wenige Auserwählte nur trngen das
Neue in ihren Händen. Es wurde überliefert von einem zum andern
und mehrte sich, solange die Kette der Auserwählten nicht riß. Es
ging unter, sobald einer der Großen ohne würdigen Nachfolger starb.
Als Friedrich nicht mehr das politische Leben seines Volkes ordnete,
war es nur uoch eine hohle Form und brach im ersten Sturm. Gegen
diese Zeit, die selbst da, wo sie ehrlich sich bemüht moralisch und
bieder zu sein, kleinlich und feig erscheint, erhob sich Fichte. Er
wußte sehr wohl und hat es ausgesprochen, daß sie auch Werte in
sich trug. Dennoch schalt er sie. Oder vielmehr: eben deshalb, denn
er war nicht der Mann, sich um Wertloses zu ereifern.

Moralprediger gab und gibt es freilich unter den Kulturvölkern,
solange es Kultur gibt. Von den Kanzeln und Rednerpulten ver-
künden sie die Fäulnis der „Gesellschaft", des „Volkes", der „Mensch-
heit". In den Zeitschriften malen sie die Gebrechen der Zeit in grellen
Bildern aus, und beschwören das Publikum, sich abzuwenden von
der allgemeinen Verderbnis. Die Gedanken dieser Prediger ver-
laufen seit Iahrhunderten in immer gleichen Bahnen, und es macht
kaum einen Nnterschied, ob sie diesem oder jenem Volke angehören.
Sie sind in Wahrheit nicht, was sie zu sein glauben: das Gewissen
ihres Volkes. Sie sind besten Falles ein Bestandteil der „öffent-
lichen Meinung", der Durchschnittsmeinung eines Kreises von Ehr-
lichen in ihrer Zeit. Das Gewissen des Volkes aber quillt auf aus
jenen unterbewußten Tiefen, in dem die besonderen Kräfte fortleben,
die ein Volkstum gerade so, wie es ist, und nicht anders gestaltet
haben und weiter mitgestalten. Sind sie Drang, Trieb, Instinkt?
Wieder-bewußt-werden von etwas, das ins Nnbewußte versank? Spielt
„Paläontologisches", spielen Atavismen mit? Wer in sich selbst nie
etwas davon wallen fühlte im ersten Dämmerlicht des anhebenden
Bewußtseins, dem ist das, was wir hier meinen, nur ein leeres Wort.
Vielleicht läßt es ein „Volksgewissen" überhaupt nicht so erkennen,
wie wir eine Empfindung, ein klar bewußtes Gefühl erkeunen, zer-
gliedern und in das seelische Geschehen an bestimmten Orten ein-
reihen können. Vielleicht ist dieses Quellende, vor der Klarheit der Er-
kenninis Verdämmernde, das unsre Neigung und unsern Willen
schon bestimmt, ehe er zu bewußtem Leben wird, überhaupt uicht für
die Erkenntnis da, sondern nur für eine Gestaltung künstlerischer
Art. Es drängt empor in einzelnen Gehirnen, und wen es aus-
erwählt und ergriffen hat, in dem entzündet es gigantische Bilder,
die der Welt und am meisten den zünftigen Moralpredigern ein

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