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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 4 (Januarheft 1926)
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Trentini, Albert; Molo, Walter von: Offene Briefe, [1]: Albert Trentini an Walter von Molo [und] Walter von Molo an Albert Trentini
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0232
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zeilen daran erinnert zu werden, daß in uns jeden Tag, jede Stunde Erlösung
ebenso geboren wird wie Tod und Verdammnis, daß eS für jeden Menschen Immer
Weihnacht und neues Jahr, und Sonntag und Feiertag geben kann, wenn wir nur
die innere Festtäglichkeit besitzen. DaS ist daS Wichtige; nur Triefaugen legen sich
auf amtliche Termine fest — ich halte von amtlichen „Erhebungen" sehr wenig, wofür
war ich denn sonst zehn Jahre lang „Staatsbeamter"? Du weißt, kaum hatte sch
den österreichischen Staatsdienst verlassen, brach die Monarchie zusammen! Das
zeigt allerdingS, wi e wichtig der einzelne Beamte ist! Doch nun zur heutigen Un-
wichtigkeit meineS Selbst! Jch werde die Weihnachts- und Neujahrstage zu meiner
Feier, zur endgültigen Vollendung des dritten BandeS meiner Bobenmatz-Trilogie
verwenden und dabei „allein" und „ohne Baum und ohne Geschenke" sitzen, ohne
darüber betrübt zu sein. Denn: haben wir uns je allein gefühlt, wenn wir „allein"
waren, und sind wir nicht immer einsam, wenn wir mit anderen Menfchen zusam-
men sind? Es ist eine harte und erhabene Geschichte, lieber Albert, wenn man mit
der Seele das Jrdische bereits so weit verlassen hat, daß es einem in seinen Narren-
tänzen wahrhaft eitel erfcheint, und trotzdem, weil man eben vom Schicksal einmal
die Berufung erhielt, gestalten zu müssen, die Jrdischkeit braucht, um das Leben
der Seelc körperlich und den andern verständlich zu manifestiercn. Der Philosoph,
dcr Religionslehrer, die sind viel besser dran. Sind die vom Jrdischen weg, sind
die in den kosmischen Kreisen des rein Gei'stigen, dann können sie dort bleiben, uns
aber zwingt es immer von der Erde zum Himmel und vom Himmel wieder zur
Crde zurück. Jn diesem Sinne sind wir schon recht flatterhafte Gefchöpfe. Die
Frauen sind drum immer mit Recht „böse" auf uns — man hat seinen verfluchten
eorpus, der einem allerdings auch hie und da Freude macht, die allerdingS meist
wi'eder mit einem seelischen Kater endet, man muß schlafen und essen, man muß „auf
die Gesundheit sehen". Ach, es wird immer so bleiben: Wir hassen, verachten, lieben
und verehren die Menfchen, wir brauchen sie nicht, und wir brauchen sie doch, wahr-
haft wie das Brot, der Körperlichkeit wegen. Wir sind Flammen, die eine Kerze,

cinen Docht, einen Glühdraht brauchen, damit wir den Menschen helfend in der

Finsternis leuchten können, dafür wcrden wir auSgepustet, angepustet, abgeknipst
usw. Wenn sie uns auch immer wieder abschalten und verlöschen, dann leuchten wir
abcr doch, Albert, dann leuchtet das ewige Licht aus uns sogar ganz stark — doch
dann „sehen" es die andern nicht! Aber sie sollen es immer mehr fühlen! Möge
mir Gott, wenn ich einmal abgeschieden bin, den Wnnsch erfüllen, alö unsichtbare,
aber sehr heiße Flamme die Sitzböden der Blinden und der Trägherzigen dauernd
in Unordnung bringen und in Brandblasen verwandeln zu dürfen!

Doch so weit sind wir noch nicht! Aber! Gibt es einen Himmel, dann trage ich

dort, sobald ich dort oder in der Hölle bin, mein Anliegen vor — es wird si'cherlich
„ad acka" gelegt werden, weil es „ungewöhnlich" ist und „Kompetenzschwierig-
keiten" ergäbe.

Zurück in die Jrdischkeit! Du fragst, ob Locarno das sei, was wir am liebsten davon
glauben möchten, oder ob wir am Ende doch damit hereingefallen sind? ^ch glaube an
das Erste und das Zweite. Reingefallen sind wir i'nsofcrne, als für mich Locarno nichts
anderes darstellt als einen der letzten echt englischen Versuche, die Hegemonie über
Bölker mit alter Jnnenkultur, die aber „noch nicht genügend" Zivilisation haben
— ich wüßte nicht, was ich mehr als dieses Wort hasse — mit unserer Jivilisation,
die wir Kultur nennen, zu beglücken. Ja, überall rumort es auf der Erde, die uner-
fülltc Wilsonfche Phrase von der Gleichberechtigung der Völker ist ein Samenkorn,
das früh oder später das Gute wirken wird. Es kommt eben immer alles anderS, als
die klugen Menschen erwarten. Die bösen Gewissen haben schon eine Ahnung davon,
drum kam Locarno! Noch einmal sollen die Brutalität, der Egoismus, der Kapitalis-
 
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