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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 6 (Märzheft 1932)
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Böhm, Hans: Schriften von und über Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0449
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der Cornelia Goethe hal Meta Schneider-Weckerling in einen rühr-
seligen Tagebuchroman gebracht (Diederichs), natürlich ohne Ahnung der pathologi-
schen Konstitntion dieser Frau. Folgende Probe genüge: „Jch habe an meinen Bruder
geschrieben, er möge mir doch von dieser aimablen Friederike Brion schreiben. Ob
er ihr nicht gleich einen Brief geschrieben habe — toie sie sonst in ihrem Wesen sei —,
wie sie aussehe und so weiter. Er schrieb mir darauf einen langen Brief, in dem
er erzählte, er habe damals gleich am ersten Abend mit ihr einen Spaziergang im
Mondschein gemacht und sei Lief glücklich (!) lauschend neben ihr hergegangen, vbwohl
ihre Neden nichts MondscheinhafteS gehabt hätten. »Die Klarheit, mit der sie sprach,
machte die Nacht zum Tage«, schrieb er. .. Weiter schrieb mein Bruder noch, er
habe, wieder nach Straßburg zurückgekehrt, am folgenden Tage sofort einen Brief
an Friederike geschrieben. Ob ich ihn schön fände? er wolle mir seinen Anfang
schreiben. Er heißt so: »Liebe neue Freundin! Jch zweifele nicht, Sie so zu nennen«
(folgen noch einige Zeilen des bekannten Bridfes). ... So habe er begonnen. Ob
ich es richtig fände?? Dann habe er noch viel geschrieben . .."

Nach demselben Rezept verarztet Emil Hadina das Sesenheimer Erlebnis: „Friede-
rike erzählt. .." (Staackmann). Wirklich: das Einzige, was dieses Naturkind nicht
tun darf, ohne ihr Wesen zu verlieren, läßt sie dieser, sagen wir: Verfasser begehen:
sie schreibt ein sentimental-bewußtes Tagebuch, natürlich auch zusammengestoppelt
aus Goethischen Briefstellen von 1771 und Dichtung und Wahrheit von 1612...
„Und wie lieb und innig sind jetzt die einfachsten Worte, mit denen er mich schmückt!
»Deine Anmut wetteifert mit der beblümten Erde, die Heiterkeit Deines Gesichts mit
dem Blau des Himmels.« Und wenn ich einmal über den Rain und die Matten
laufe, um ein vergessenes Buch, ein verlorenes Täschchen zu holen oder zu sucheNi,
vergleicht er mich dem Reh, wie es über keimende Saaten hinfliegt.. . Und er rühmt
es sehr, daß ich dabei nie außer Gleichgewicht gerate und immer voll bewußter Har-
monie wirke." — Aber selbst diesen Schrecken übertrisft Hadina noch, indem er das
Tagebuch erhalten haben will von einer früheren Schülerin, auch Pfarrerstochter
und Friederike geheißen, der es die Sesenheimerin im Traum diktiert hat! Es gibt
eine Ruchlosigkeit des DilettantentumS, dies fast entwasfnend wirkt.

„Goethes liebe Kleine", d. i. Marianne, behandelt Kurt Schuder (Behr), auch
dies eine überaus neckische Angelegenheit. Marianne neigt ihr „erglühendeS Köpf-
chen" und fragt „wie ein leises Vögelchen", und Goethe monologisiert: „Ja, in der
Liebe ist er wohl der größte Fachmann ^seiner Zeit und überhaupt aller Zeiten",
und manchmal steht er bei Tisch auf und rezitiert seine Gedichte; wogegen Wille-
mer seine König-Marke-Rolle mit Bravour agiert. Bemerkenswert, daß Max Hecker
„diese ganz vorzügliche Arbeit" preist: auch ein Direktor des Goethe-Schiller-Archivs
braucht nicht Kitsch von Kunst unterscheiden zu können.

6. Ausblick

Von diesen Lrüben Niederungen bis zu den Höhen, wo neue Blicke in die Goethische
Welt gewagt werden, — welch eine Kette der tiefsten Wirkung! Es hat Zeiten ge-
geben, die vor allem den „klassischen" oder den „jungen" Goethe gesucht und gesehen
haben; die unsrige, am Rande des NichtS taumelnd, sieht ihm vielleicht am tiefsten
i'nS Herz, wenn sie nach dem weisen LebenSgestalter und hosfenden Weltdeuter ver-
langt. Schon 1826 schrieb Carlyle: „()n 100 Jahren werden in seinem Namen
Parlamentsakten erlassen werden": —- wir werden die Prophezeiung nicht belächeln,
weil sie, wie jede, die Erfüllung zu mahe sah. Noch ist keine Persönlichkeit oder Zeit
gekommen, die sich ohne eigenen Schaden der heimlich bildenden Gewalt dieser Er-
scheinung entziehen durfte; und wenn jetzt wirklich für Europa der Tag des freien,
bewußt sich gestaltenden Menschen unterginge, auch einem neuen Mittesalter strenger
Bindungen hätte der Dichter der Wahlverwandtschaften und der Wanderjahre etwas

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