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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
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Nette, Herbert: Die Beschwörung der Kundali: über eine Sonderform indischer Versenkungspraxis
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0491
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Andächtrgen mit dem Bild seiner Verehrung, in der Ineinssehung von Seher
und Gesicht*.

Über die erfahrungsgemäß außerordentlichen Schwierigkeitm, die leHten Stufeu
zu erreichen, insbesondere von der Verehrung mit Hilfe des Kultbildes auf
die Stufe bildloser Kontemplation zu gelangen, sprechen die Texte häufig.
Der höchfte Grad der Meditation liegt vor, wenn der Gegenftand der Medi-
tation das eigene Selbft ift.

Dieser Weg ift es, den das hier zum Ausgangspunkt genommene Shat-chakra-
nirupana** befchreibt, das von den Kraftzentren (chakra-Zentrum) im Men-
fchen handelt und von Lhrer Durchdringung im Vogaprozeß zum Ziele der
Vereinigung der beiden Wesenspole Lm oberften Kopfzentrum.

Zu der hynmifchen Sprache des Textes, der sich einer theologifch-symbolifchen
Ausdrucksform bedient, werden die Zentren als Lotuse vorgeßellt. Es wird
gesagt, welche Blattzahl und welche Farbe jeder eiuzelne Lotus hat, welche
Figur, wetches Element und welche Buchftaben ihm zugeordnet sind. Jn jedem
Lotus hat eine Gottheit ihren Sitz, die mit all ihren symbolifchen Farben,
Emblemen, Gerätfchaftm, Gebärden gefchildert wird. Darauf wird die Farbe
der Fruchthülle genannt und Näme, Aspekt und Eigenfchaften der dort resi-
dierendeu Gottheit. Zuletzt folgt eine Berheißung für den Vogh der ein be-
ftimmtes Zentrum erreicht hat. Die Zentren oder Chakras befinden sich längs
des Rückenmarks, und zwar an der Basis des Rumpfes, in Höhe der Genita-
lien, des Rkabels, des Herzens, der Kehle, der Augen. Bom uuterften Zentrum
bis hinauf zum Schädeldach ziehen sich drei subtile Kanäle; die beiden äußereu
sind die gewöhnlichen Leiter der Energie, der mittlere wird im Aogaprozeß
zum Kanal, dessen sich die fchlangenförnüge Kundali bedient, wenn sie vom
unterften Zentrum, wo sie fchlafend liegt, auffteigt. Das Ziel ift die Ber-
einigung mit Shiva, der im oberften tausendblättrigen Lotus unter dem
Schädeldach ruht. — Der Grundgedauke ift hier, wie im ganzen mittelalter-
lichen Hinduismus, die (erfcheinungsmäßige) Polarität und (wesensmäßige)
Einheit von Shiva und Shakti. Beide sind unterfchiedslos gleich Brahma,
dessen unveränderlich-ftatifchen Aspekt Shiva, das reine, höchße Bewußtsein,
dessen dynamifch-wechselvollen Aspekt Shakti, die kosmifche Energie, dar-
ftellt. Die Aufhebung dieser Polarität im menfchlichen Körper, die Ber-
einigung von Shiva und Shakti, die hier Kundali heißt, ift das Ziel des
Vogi. , ,

Was ift zunächst der allgemeine Charakter dieses Borgangs? Wir Haben es
mit sehr ausgeprägten Formen religiöser Jntroversion und Bersenkung zu
tun. Der Menfch wird in seinem natürlichen Dasein durch Bermittlung
seiner Sinne in jedem Llugenblick so heftig von den Erfcheinungen und Ein-
drücken der Umwelt bewegt, daß sein Geift in unaufhörlicher Bewegung ift,
er wird von seinen Handlungen, Empfindnngen, Affekten hin- und herge-
rissen, er wird nachts von Gesichten befallen, die seinem Gefühl fremd, seinem
Intellekt unverftändlich sind. Dieser Menfch, der von sich Ich sagt und sich

Reiche Aufschlüsse hierüber in dem schönen Buch oon Heinrich Zimmer, „Kunstsorm und
Aoga im indischen Kultbild" (Frankfurter DerlagSanstalt).

** Herausgeg. oon 2l. Avalon, „"tbo Lsr^snt ?ovvsr". Deutsche Übersetzung deS Hauptteilö
im Folkwang-Auriga-Verlag.
 
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