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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0520
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bem Export begonnen. Es wäre rmmerhin möglich, daß noch andere Gründe
dafür maßgebend wären als schlechte Aufbrmgung. SeiL dem HerbfL ist
Japan in Bewegung.

Dennoch liegt in der landwirtschaftlichen Organisation das schwerste Dilemma
des Systems. Macht man in der Frage der Kollektivierung und Industriali-
sierung der Landwirtschaft Zugeständnisse, so muß die Doktriu so weit zurück-
weichen, wie es wohl bisher noch aus keinem Gebiete geschehen ist, so beweg-
lich man sich der russischen Struktur angepaßt hat. Nimmt man diese An-
passung in der Landwirtschaft nicht vor, dann sind der Eyport, die Devisen-
beschaffung und der Industrieausbau gefährdet, unter Umständen sogar die
Volksernährung. Beobachter im Lande, die bis vor kurzem und seit Iahren
sehr positiv über die wirtschaftlichen Möglichkeiteu des Systems dachten,
sehn neuerdings dieses Dilemma in bedrohlicher Schärfe sich erheben. llnd
wiederholt ist mir von sowjetrussischer Seite selbß zugestanden worden:
m der Verkehrs- und der landwirtschaftlichen Llufbringungsfrage „liegt
unser Limit".

Einstweilen hilft man sich noch mit dem Kamyf gegen den „Kulaken" (ob-
wohl es längst keine wirklichen Dorsreichen, die diesen Nümen verdienten,
mehr gibt) und mit dem Llufsyüren sonßiger angeblicher Sabotage. Der
Kulakenfeldzug hat eine Nebeuwirkung, die für das Verhältnis zwischen dem
deutschen uud dem russischen Volke höchst hemmend ist: das 1,1 Millionen
zächlende deutsche Bauerntum in Rußland ist in manchen Gebieten vernichtet.
Die Tragödie dieser deutschen Kolonisten, die, von russischen Herrschern ins
Land gerufen, unter unsäglichen Oyfern an Llrbeit, Gesundheit, Volkskraft
russischen Urboden in sruchtbares Land verwandelt haben, gehört zu den
düstersten Kayiteln sowjetrussischer Geschichte. Diese deukschen Bauern warm
natürlich alle „Kulaken", zwangsläufig, als gute Wirtschafter und fleißige
Arbeiter; sie waren alle Individualwirtschaftler, ihrer Erziehung und Tra-
diLion gemäß, um derenLwillen man sie ja ins Land gerusen haL. Sie sind
denn auch von der laudwirtschafLlichen KollekLivierung am schwersten getroffen
worden. Die große Lluswanderungsbewegung vor zwei Iahren (und deren
völlig unzulängliche Behandlung durch die damalige deutsche Regierung) hat
das Übrige getan. Bon denen, die damals vor Moskau lagen, um auszuwan-
dern, Lut der größte Teil, soweit er uicht schon tot ist, Strafarbeit in Sibirien
oder bei Astrachan, ganze Familien verkommen, entwurzelt, in ungünstigem
Klima, ohne Hilfe. Einzelschicksale dieser 2lrt treten dem deutschen Reism-
den überall entgegen. Eine Bauersfrau, mit dem klarm Gesicht guter schwäbi-
scher Rasse, redet uns in der Bahn au: „Jhr seid Deukschländer?" Und
dann kommL die LeidensgeschichLe von Brüdem, GaLLen, Söhnen, die in der
Berbannung sind und denen man osL nichL einmal etwas schickm kann. Die
WirtschafL daheim ist zerstört, das Kollektiv hat die zurückgebliebenen Fami-
lrmmitglieder erst zum Eintritt gezwungen, dann oft wieder ausgestoßm; end-
lose Schikanen, in denen Neid und Nachsucht ehemaliger Dorsyroletarier
gegen die einst Wohlhabenden, ja vielleicht gegen Wohltäter zum Durchbruch
kommt, zermürben den Rest der Familie.
 
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