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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI article:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0519

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entsiehn kann — dann hai man emen Begriff von den Folgen siädtischer
politisch-doktrinärer Eingrisse in die ländliche Sirukiur. Hier kann eben nur
das Besireben, ländliches Proletariak zu schassen und bodensiändige Bevöl-
kerung aus politischen Gründen zu entwurzeln, als Erklärung gelten. In
anderen Gebieten sind wirtschastliche Gründe gegeben. Die alte russische
Zwergwirtschast war unzulänglich und namentlich einer staatlichen Getreide-
wirtschast, einer zentralen Ausbringung ungünsiig. 2lus den Getreideböden
der Ukraine und des 92ordkaukasus namentlich waren andere Betriebsgrößen
Voraussehung sür eine rationelle maschinelle Bearbeitung. 2lber sowohl die
Staatsgüter, die Sowchosen, als auch die Kollektive, die Kolchosen, sind viel-
sach unorganisch ausgebaut, ohne Rücksicht aus die natürlichen Gegeben-
heiten.

Die Spezialisierung und Indusirialisierung isi ossensichtlich zu weit getrieben,
der Boden isi zu verschiedenartig, die klimatischen Verhältnisse sind keines-
wegs gleichmäßig genug, um ohne gewaltiges Nisiko sich im einzelnen Falle
nur aus Weizen-, Mais-, Schweine-, Rindviehsabrikation verlassen zu kön-
nen. llnd die Kolchosen werden ihrerseits die Schwierigkeiten, unter denen sie
leiden, nicht durch den wütenden Kamps gegen den „Kulaken" beseitigen. Im
Gegenteil: da man einmal in diese Sackgasse geraten isi und nicht auo ihr
heraussindet, wird allmählich jeder, der überhaupt nur ein Mindesimaß wirt-
schastlicher Tüchtigkeit erweisi, zum Kulaken gesiempelt und ausgeschaltet.
Damit wird in der Tat das Land vielsach seiner besien Kräste beraubt, die durch
keine Nationalisierung und Mechanisierung zu ersetzen sind, zumal da es an
Menschen sür die richtige Behandlung und Pslege der Maschinen fehlt.

Die Folgen sind denn auch sür das Sysiem bedenklich geuug. Die Abliefe-
ruugszissern von igZi erreichen vielsach nur einen Bruchteil der Planzissern.
Mau behält Getreide zurück oder verkaust es, seit die Sowchosen und Kol-
chosen bilanzieren, d. h. ihre siaatlichen Kredite, ihre Maschinen, ihr Saatgut
verzinsen und amortisieren sollen, aus dem sreien Markt. Sehr geharnischte
Erlasse (wie der vom 2g. Oktober igZi), die sreilich auch wieder innerpolitisch-
russisch zu versiehn sind, d. h. als Äntrieb für das russische Tempo, haben
gerade die besien Sowchosen wie die des Zuckertrusts schars gerügt. Die Ver-
buchung des Eigenverbrauchs sei häusig als gemeine Räuberei zu bezeichnen,
die Ernteergebnisse seien „böswillig weit unter den tatsächlichen Erntemengen
angegeben" worden. Es seien „in ein bis zwei Monaten unkontrolliert wenig-
siens Z bis 4 Millionen Pud Getreide verschleudert worden". Der Zucker-
trusi habe „eigemnächtig seine Berpslichtung aus Ablieseruug von Zo Millio-
nen Pud Getreide im September aus 11,8 Milliouen, im Oktober aus
8 Millionen herabgeseHt". 2lus dem „Gigant" wurde die im Iuli von
der Direktion aus 170000 t Getreide bezisserte Bruttoproduktion mis
ii^oootherabgeseht, die Ablieserung entsprechend V0N122000 aus97000 L,
von denen dann tatsächlich 87000 dem Staat zuslossen. Bei den i/s Millio-
nen Bauernwirtschasten, die in Kollektiven vereinigt sind, sind die Berhält-
nisse ähnlich. Bon den 14 Großgütern Westsibiriens lieserten 19Z1 uur Z
ab. Das sind ossizielle Zahlen. Die Ossenherzigkeit, mit der sie verössentlicht
werden, läßt freilich noch die Möglichkeit ossen, daß taktische Absichten
verfolgt werden. In der Tat hat man dies Iahr erst zu Weihuachken mit

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