Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Schlafs
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0062

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das Geheimms des Schlafs

Von WLlhelm Michel

^E^rucht des Schlafes Lst dLe Ernüchternng. ELn Mensch am Morgen nach
O durchschlafener Nacht: das Lst Helle, KlarheLt des Bewußtseins bei
warmem Körper, ein erneuertes, glückliches Zusammenwohnen von GeLst
nnd Seele.

Aber wieso kann dieser Zustand „Ernüchterung" heißend
Man muß zwei völlig verschiedene Arten von NmchternheLt unterscheiden.
DLe eine Lst die eben genannte NüchternheLt der Morgenslunde. Es Lß eine
NüchternheLt voll Schwung und Kraft; eine dichterische, eine sugendliche
NüchternheLt; Ordnung, SchlLchtung, VereLnfachung, einhergehend mit einer
neuen MächtLgkeLt des GeLstes, Lust zu einem guten Tun. „NÄchtern" Lß
diese Morgenstunde Lm GegensaH zum Abend, der viele Menschen Ln eLn
unbeguemes, zauberisches TkeH verstrickt. Ieder hat schon erfahren, wie am
Abend die Sachen, die uns umgeben, eine Neigung entwickeln, dämonisch zu
werden, über Lhre Grenzen zu gehen und Ln einer am Tag ungewohnten Weise
auf nns einzudringen. Der Abend führt ein Rausch-Element mit sich, das
unsere geistige Herrschaft über die Umwelt Ln Frage stellt. DLe DLnge be-
kommen eine 2lrt BlLck, kehren ein ungewohntes ELgenleben hervor, suchen
über nns mächtig zu werden. Auch Gedanken, die wir denken, recken sich son-
derbar auf. 2lm Morgen Lst das alles wieder Ln Qrdnung gebracht. DLe
Herrschaft über unsere Welt, der volle Besr'H unserer Kräfte iß uns zurück-
gegeben, die Ichgefühle und namentlich auch die Körpergefühle sind klar und
frei; dazu, wie gesagt, jener Schwnng, jene geistige RegsamkeLt und Fülle,
jene matutine PhantasLe, die sich von der abendlich überhLHten PhantasLe Ln
wesentlichen Zügen unterscheidet.

WLrd diese 2lrt NüchternheLt durch Schlaf bewirkt, so kommt eme andere
2lrt NuchternheLt gerade dnrch Schlaf entziehung zustande. Das Lst jene
Ernüchterung, dLe mit Kälte, ja mit Frost Lm Körper einhergeht, mit Leere,
PlattheLt und Dürre des Denkens. DLese RküchternheLt hat durchans ker'nen
Schwung, sie Lst ohne ReLzhunger, ohne liebende Zuwendung zu den Objekten.
In Lhr sind wir trocken, sarkastisch, böse. WLr sind Ln Lhr auf eme skep-
tische, klägliche WeLse auf das bißchen frierende Ich gesiellt, das nicht mehr
an der Welt haftet. WLr sind ausgestoßen, vereinsamt; der GeLst Lst nicht
klar, sondern nur kalt, die Gesamtverfassung Lß grenzenlos engherzig, un-
fruchtbar, trLvial.

Es ergibt sich: die eme Ernüchterung Lß eine Nuchternheit der ELnfügnng
Ln die großen Zusammenhänge, die andere Lfi eine Nuchternheit des Her-
ausfallens aus Lhnen.

Schlaf ordnet den Menschen durch ein Untertauchen Lns Tkamenlose, durch
eine HeLmkehr in die Fülle der Beziehung. Der Schlafende Lst 2lntäus, der
die Mutter, die Erde, berührt: die BLndung wird wiederhergestellt, die BLn-
dung von GeLst und Leben. Das Wachen arbeitet ständig daran, diese BLn-
dnng zu lockern. Das Wachen „verbraucht" den SchaH an ErdbezLehnng,
der sich Lm Schlaf angesammelt hat, es löst die BerbLndung GeLst-Seele
fortschreLtend auf, es Lst angefüllt mit lauter Versuchen des rebellischen GeL-

39
 
Annotationen