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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Le Fort, Gertrud von: Die Letzte am Schafott, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0061

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Mystik. Schon der Ansang der betresfenden Partien unterscheidet sich deutlich
von allen srrcheren. Statt der bloßen 2lngabe des Datums sindet sich die
Überschrift: „Rufe der Seele zu Gott." Alles folgende ist in Gebetsform
geschrieben. Es heißt dort:

„O mein Gott, Du unendliche, unermeßliche, unergründliche Weisheit! Er-
leuchte Deine Dienerin in dem Amt, das Du ihr vertrautest; Du, o mein
Gott, weißt, daß Lch bereit bin, alle Deine Befehle augenblicklich zu voll-
strecken, sobald Du mich würdigst, sie mir mitzuteilen, die Gefahr besteht
nnr darin, daß ich sie nicht richtig erkenne. Mein Gott, ich schlage meinen
Verstand vor Dir auf gleich einem Buch: streiche darin ans, was Dir miß-
fällt, und unterstreiche, was Deinem erhabenen Willen entschricht. Q mein
Gott, kann es denn wahr sein, daß Dn, der Du die natürlichen Tugenden
der Menschen über die Natur hinaus steigerst, auch einen unserer natürlichen
Mängel dieser Erhebung würdigst? Ist Deine Barmherzigkeit so groß, daß
Du einer armen Seele, die sich nicht über ihre Schwachheit zu erheben ver-
mag, bis eben in diese Schwachheit hinab folgst, um sie gerade dort mit
Deiner Liebe zu vereinen?"

Diese Zeilen beziehen sich ohne Zweifel auf Blanche, denn gleich darauf
heißt es noch deutlicher:

„War es Dein Wille, o mein Iesus, die ängstliche Natur dieses armen
Kindes auszuwählen, um, während andere sich rüßeten, jubelnd Deinen Tod
zn sterben, gleichsam in Deiner Todesangst bei Dir auszuharren?

War dies die Anbetung, die Dir noch fehlte, und war ich im Begriff, sie
Dir zu rauben?"

Die nächsten Seiten drehen sich ansschließlich um diese letzte Frage. Dann
aber heißt es:

» „Ich habe Dich, o mein Gott, in einem Akt der vollkommenen Übergabe
meines Willens, meines Berßandes nnd aller meiner Kräfte angerufen,
mir in nnzweideutiger Weise Deine Entscheidung zn zeigen: ich vermag also
nicht anzunehmen, daß ich mich Läusche. Du, o mein Gott, schweigst und
gebietest somit auch mir Schweigen."

Ich glaube nicht zu irren, wenn ich in diesem letzten Satz den Entschluß
Madame Lidoines erblicke, die Entscheidung darüber, ob Blanches Furcht
religiös geworden sei, Gott anheimzustellen. Es würde sich diese Zurück-
haltung des Urteils auch durchaus mit der Praxis der Kirche in den
meisten mystischen Fällen deckm.

Blanche blieb also zunächst im Karmel von Comyiegne, und zwar unter
der Leitung Madame Lidoines. Diese enthob damals ganz plötzlich Schwe-
ster Marie de l'Incarnation des Amts der Nvvizenmeisterin und über-
nahm es selbst.

Bon nun an beginnt der Kamyf Marie de l'Incarnations gegen die Priorin
Lidoine. (Schluß solgt)

Anmerkung der Schriftleitung: Oie Verse Seite sind von Erich Przywara übersetzt. —
Oie Erzählung der Oichterin erscheint demnächst im Derlag Kösel L Pustet, München. Wir
erinnern unsere Leser an ihre Bücher „Hymnen an die Kirche", „Oas Schweißtuch der Deronika"
(Kösel) und „Oer Papst auS dem Ghetto" (TranSmare-Veclag).

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