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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 6 (Märzheft 1932)
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Böhm, Hans: Schriften von und über Goethe
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0452

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zu sagen; iirdessen wird er fortfahren, das verbreiten zu helfen, lvas ihm in junger
Manneszeit das heißefte Anliegen, im Alter der bleibende Besitz tvar: „große Ge-
danken und ein reines Herz", „Fdee und Liebe". Hans Böhm

Russlsches Tagebuch

Von Peregrinus
(ForLsetzung)

/T^ewisseKirchen sind an bestimmten Tagen gefüllt, und zwar durchaus nicht
vS) nur von alten Lenten. Obwohl es einem Pädagogen oder höheren Beamten
schlecht bekommt, wenn er in der Kirche gesehen wird. Es fehlt offensichtlich
nicht an Mitteln zur Erhaltung dieser Kirchen, an milden Gaben und Bei-
steuer der Gläubigen. Man sagt mir, gewisse besonders gut besuchte Kirchen
seien als Sammelsiätte von Sekten zn betrachten. Diese Angaben nachzu-
prüfen, fällt wohl selbst den Russen fchwer. Über nichts ift dunkleres Ge-
heimnis gebreitet im heutigen Rußland als über die G.P.Il. und das religiöse
Leben. 2ln diesen beiden Polen verliert sich die Landfchaft des bolfchewistifchen
Staates ins Geheimnis, in die Lraditionell-russifche Grenzenlosigkeit. Dieses
Staatswesen wäre nicht russifch, wenn das letztlich Entfcheidende nicht ano-
nyme Mächte wären, allen Jnftanzen sich entziehend, allen sichtbaren Herren
überlegen. Man hat mit Recht betont: der sowjetrnssifche Untertan stehk nicht
mehr unter Herren, sondern unter einer Macht. Der Staat möchte aus-
fchließlich diese Macht sein. Er ist es aber keineswegs ausfchließlich. Die
Kirche, ehemals mit dem Staat verbunden, ift tot. Die Kirchen, getrennt,
überwacht, verfolgt vom Staät, sind, nach vielen Anzeichen zu fchließen, in
vieler Gestalt im Werden, Aufblühen, Wachsen.

Einstweilen freilich werden die religiösen Antriebe revolutionär abgelenkt.
Dostojewsky läßt einen seiner Helden in den „Dämonen" sagen: wer in Ruß-
land Revolution machen wolle, müsse mit dem Kampf gegen Gott beginnen.
So undnldsam, wie irgendeine Kirche nur je war, verfolgt der Bolfchewis-
mus die Kirchen; in seinem Ansprnch auf Weltherrfchaft der unmittelbare
ibkachfolger der zaristifchen Rechtgläubigkeit. Aber auch hier ist echt Rus-
sifches untrennbar mit kommunistifcher Doktrin verbunden. In der russifchen
Atmosphäre nimmt sich der fanatifche, mit russifcher Zerftörungslust oder
mit macchiavellistifchem Zynismus durchgeführte „Feldzug gegen Gott" Lrotz
aller für unser Empfinden unerträglichen Ungeheuerlichkeiten doch noch ver-
hältnismäßig weniger krampfhaft, von giftigen Ressentiments aufgebläht,
künstlich aus als in der deutfchen Luft etwa die phantasie- und trostlosen Rü-
peleien der Aufklärer und Demagogen. Ein genauer, nicht berufsmäßig-
wissenfchaftlicher, sondern alterfahrener Kenner des russifchen Bauern sagte
mir: der russifche Bauer ist nie Kirchenchrift gewesen. Das russische Ringen mit
Gott, die russifche Religiosität bewegte sich in tieferen Schichten des Be-
wußtseins, in die weder die offizielle Kirchlichkeit noch deren bolfchewiffifche
Bekämpfung hinabdrang. Und so iff der hoffnungslose Aufkläricht europäi-
fcher Großstadtmassen und Bildungsphiliffer (der freilich auch in der russifchen
Oberfchicht von heute eine große Rolle spielt) etwas ganz anderes als die

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