Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0453

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Gottlosen-Bewegung in Rußland. Im übrigen Lritt man auch hier offiziell
ein wenig kürzer, das Vorgehen des Papffes und die Weltreaktion gegen die
Gottlosen-Propaganda haben Eindruck gemacht. Die Sgrengnng der (18Z7 bis
188Z erbanten) Erlöserkirche hat dieser Reaktion neuen Auftrieb gegeben. Sie
hat, obwohl seit langem geplant und vorbereitet und also durchaus kein neues
Faktum, ein besonders sinnfälliges Signal gegeben. Um so mehr, als der
Zerfförungsakt in eine Zeit scheinbarer Ruhe fällt und deutlich beknndet, daß
der Kampf gegen die chrifflichen Kirchen vom Syffem untrennbar iff: in der
Tat gipfelt dieses ja in einer Vereinigung von politifcher Herrfchaft, Wirt-
fchaftsdiktatur und Hoheit der materialiffifch-marxiffifchen Staatsreligion.
llnd wieder taucht die Frage auf: werden die politifchen und die kolonisatori-
fchen Antriebe auf die Dauer genügen, den russifchen Menfchen zu sammeln^
zn führen, zu erfüllen? Wird der materialiffifch-politifch-kolonisatorifche Re-
ligionsersatz nicht immer weniger wirksam werden, je mehr die Widerffände,
die Reibungsflächen, die der alten revolutionären Generation den Elan geben,
fchwinden? Der Papff in Rom, der Völkerbnnd in Genf sind weit. Man
kann sich von offiziellen Propaganda-Kanzeln aus noch so sehr mühen, eine
erfundene Kirche, die den Mlkerbund protegiert (wie es etwa in jener Revue
gefchieht), als Popanz aufzupntzen: wird derlei auf die Dauer genügen, die
religiösen Antriebe „revolutionär", d. h. ffaatlich abzulenken? Und wie wer-
den sich diese noch geffalten, wie sich auswirken?

Genau so, wie es die Struktur des russifchen Lebens nnd, im Zweifelsfalle^
sicher nicht so, wie es die kommnniffifche Doktrin fordert.

*

Überall verzahnt sich beides: die Doktrin und die natürliche Volksffruktur.
Überall ffößt zunächff die Doktrin rücksichtslos und wirklichkeitsfremd vor^
dann folgt die Reaktion, die man nüchtern, gleichsam psychophysifch nachmißt
(so wie man ganz sachlich vom Berzweiflungspunkt spricht, den man vermei-
den will, ohne zuviel von den doktrinären Zielen aufzugeben), und dann ffellk
man sich neu ein, revidiert die Doktrin, paßt sie an, bis ins Philosophifche
hinein.

Aber man braucht nicht bis ins Allgemeine aufzuffeigen, der Alltag bietet
genug Einzelbeispiele für die bewegliche Front der Doktrin. Man hat be-
kanntlich den Sonntag abgefchafft nnd dafür jeden fünften Tag zum Ausgeh-
tag gemacht. Damit der Familienzusammenhang nicht den ffaatlich erwünfch-
teren Kollektiven Abbrnch tue, hat man die Ausgehtage der Familienmikglieder
verfchieden gelegt. Das hält sich nicht, die Familie beginnt sich wieder durch-
zusetzen. (Auch der Sonntag iff immer wieder zu merken.) Wie überhaupt
die Auflösung der Familie im Endergebnis wahrfcheinlich nicht weiter gehen
wird, als dem auf diesem Gebiet ohnehin etwas fließenden russifchen Emp-
finden und anderseits den modernen kollektiven Tendenzen in aller Welt
entspricht.

Ich bin in Kindergärten gewesen. Man hat mir sicher besonders gnte gezeigt.
Ie zwei Mietskasernen, von dieser neuen und doch fchon sehr verwohnten Art,
die man in Rußland als Errungenfchaft empfindet gegenüber den alken primi-
tiven, aber sicher sehr behaglichen Holzhäusern der Borffadt, haben einen

394
 
Annotationen