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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1932)
DOI Artikel:
Messner, Johannes: Bilanz des ökonomischen Liberalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0548

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Bilanz des ökonomischen Liberalismus

Von Iohannes Meßner

^^asi könnke es henie als überholkes Beginnen erscheinen, siöh länger und
O eingehender auf den Individualismus zu besinnen, in ciner Zelk, in
der in geißesgeschichLlicher Wende von gewaltigsien Ausmaßen der soziale
Gedanke endgültig zur HerrschafL gelangk zu sein scheint, nichk in allem und
jedem Einzelnen, aber doch in der öffentlichen Meinung und in den bewegen-
den Kräften des öffentlichen Lebens so unwidersiehlich, wie es eben nur dem
Umschlag geisiiger Strömungen in Zeiten der Wende entspricht. N!och bedeut-
samer aber isi, daß der Gang der Entwrcklung von Wirtschaft und Gesellschaft
unausweichlich auf jene Geleise fesigelegt erscheint, die in die Richtung einer
zunehmenden Kollektivisierung gehen, dieses Wort hier in seiner ganz allge-
meinsien Bedeutung genommen, in der es die Vorherrschaft des Sozial orga-
nisatorischen in den Iusiitutionen und Formen gesellschaftlichen Lebens gegen-
über der i n d i v i d u e l l e n Freiheitssphäre besagt: man denke an die Ver-
bandsbildungen des heutigen Wirtschaftslebens, an Sozialpolitik und Sozial-
recht, an siaatliche Interventions- und Subventionspolitik usw., nichk zu ver-
gessen auch das Experiment des Kollektivismus in Rußland. 2lber schon das
bloße Aufgreifen dieser wenigen Kennlinien der neuen Entwicklung macht offen-
kundig, daß diese nur scheinbar eindeutig isi, daß sie vielmehr doppelgesichtig
isi je nach dem Standort des Beschauers, daß der, der vom Individualisnms
herkommt, sie anders sieht als der, der an den Kollektivismus und seine nahe
Verwirklichung glaubt. Die Besinnung auf den Individualismus bleibt also
schon geboten für die richtige Deutung der Erscheiuungen, die wir als offen-
kundige Zeichen einer Wende in der Entwicklung erleben. Nickck minder aber
dadurch, daß der Kollektivismus unserer Zeit selbst zuinnerst an die geistigen
Bahnen des Individualismus gebunden bleibt, nach jenem soziologischen Ge-
seHe, wonach jede gesellschaftliche Bewegung, die geistesgeschichtlich als Ge-
genbewegung zu einer voraufgehenden geistigen Grundhaltung gekennzeichnet
ist, dieser Grundhaltung verhaftet bleibt. Ist das so, dann haben wir heuke
doppelt Grund, den Grundhaltungen des Individualismus nachzuspüren. Denn
die heutige wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit ist nichts anderes als die Li-
quidationsmasse einer individualistischen Kulturepoche, und gerade der durch
die immer mehr sich vertiesende Krise von Kultur, Staat, Wirtschaft und Ge-
sellschaft bedingke Zwang zur Liquidation des individualistischen Weltbildes
gibt unserem Blick erst die notwendige Hellsichtigkeit für die feineren Formen
und entfernteren Lluswirkungen individualjstischer Geisteshaltung, schafft also
eigentlich erst alle jene Voraussehungen sür eine wahre Erkenntnis die-
ser Grundhaltung; so sehr, daß erst allmählich sichtbar wird, wie sehr unser
gesamtes Denken individualistisch infjziert ist. Besonders aber
wird der den Grundhaltungen des Individualismus tiefer nachspüren, der über-
zeugt ist, daß die organisatorischeu Prinzipien uud konstruktiven Kräfte einer
wahren neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung jenseits von Indi-
vidualismus und Kollektivismus liegen.

Treten wir nun in die Analyse der individualistischen Wirtschaftsauffassung
ein, so wird uns diese nur gelingen, wenn wir uns ihren geistesgeschichtlichen

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