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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 2 (Novemberheft 1931)
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Böhm, Hans: Ein neues System der Weltgeschichte: zu Ligetis "Weg aus dem Chaos"
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0166

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entdeckten Rhychmus der KünsLe und ZsiLalLer das lange gesuchLe gesetzmäßige
Moment der Geschichte.

Ligeti selber sürchtet, daß gerade der große Mensch in den nun sichtbar gewor-
denen Maschen des Weltgeschehens gefangen sein, sich als Gefangener oorkonnnen
werde. Hierauf wäre zu erwidern, daß höchste Freiheit und Beseligung des gro-
ßen Menscheu ist, das Notwendige zu Lun. Dieses vollzieht sich ja immer und über-
all in i n d i v i d u e l l e r Form; und dies zweite Moment, das Jndividuelle (der
Persönlichkeit wie des Zufalls), färbt ja jede geschichtliche Wirklichkeit so stark,
daß darüber das Typische und Gesehhafte oft fast verschwindet. Vergleicht man
z. B. die ägyptischen, chinesischen, griechi'schen, christlichen „Mittelalter" unterein-
ander, so erfcheiut der Gattungsbegriff fast leer gegenüber dem Reichtum der ge-
fchichtlichen Jnhalte.

Zu diesen Jnhalten liefert uns also Ligeti das System der Formen, eine Leistung,
die an Großtaten wissenschaftlicher (gntuition denken läßt und die bald zum Gemeim
gut gefchichtlicher Betrachtung gehören wird. Nicht minderen Dank wifsen wir ihm
aber für die Kraft des Glaubens, die aus dem Dunkel der Gegenwart statt iu
blntergang in den blbergang und Aufstieg weist zu höheren Stufen der Gefchichte,
an denen wir Lebenden fchon mitarbeiten dürfen. Hans Böhm

Umschau

Wie steht es um England?

i.

Dweifellos steht es ernst um Englanö,
D)sehr ernst. WaS als SensationSnach-
richten zu uns kommt: das Pfund im
Stürzen, die Flotte im Meuteru, die City
bedroht: das sind nur die äußeren Zei-
chen dafür, daß Englands Lebensgrund-
lagen erschüttert, angegriffen, vielleicht
fchon unhaltbar geworden sind. Wenn
aber alles das, was England als poli-
tifcher, wirtfchaftlicher, menfchlicher und
seelifcher Begrisf bedeutet, zusammeubrä-
che, dann bräche mehr zusammen als ein
nationales Dasein. Es bräche ein Orga-
niömus zusammen, durch dessen (ynneres
so etwas wie die Achse der Welt ge-
gangen ist und vielleicht noch geht. Die
Rückwirkungen wären schlechthin revolu-
tionär. Die Welt müßte ein neues Gleich-
gewrcht suchen. Als der kluge elsässischs
Franzose, Andre Siegfried, im Frühjahr
sein Buch „l^s 6ri86 Uritunniguk",
von dem jetzt eine deutfche Übersetzung er-
fchienen ist*, herausbrachte, mochte man
ihn noch einen Schwarzseher nennen.
Man mochte ihm unterschieben, daß er
mit zu viel französischer Schadenfreude,
Selbsrgerechtigkeit und Spottlust das Bild

Andrs Siegfried: „Die englische Krise"
S. Fischer, Berlin.

IZ2

des englischen Niedergangs gemalt habe.
Heute, wenn man es unter dem Eindruck
des krachenden NiederbrechenS ganzer
Teile des englischen Gebäudes wieder liest,
muß man ihm zugestehen, daß er ein
scharfer, voraussehender, unbestechlicher
Beobachter war. Nur in der Deutung
und der Bewertung der Ursachen und
kommenden Entwicklungen wird man vor-
sichtiger und zuversichtlicher sein, als er.
Nebenbei, viele der Vorwürfe und Ta-
dcl, die er gegen Engiand erhebt, wer-
den von anderen auch gegen Frankreich
und sein System gerichtet, wie man in
Sieburgs „Gott in Frankreich" nachle-
sen kanu.

Unter den Ursachen der englischen Krise
liegen am kiarsten die wirtschaft-
lichen zutage. Man weiß, daß Eng-
lands Existenz als ein Recheneyempel er-
scheint, bei dem Handels- und ZahlungS-
bilanz, Freiheit der Welt- und Geldwirt-
schaft und der Handelswege die hervor-
ragendste Rolle spielen. Die /j2 Millio-
nen Engländer des Mutterlandes können
nur noch g6o/o ihrer Ernährung und sogar
nur 2i°/g ihres Brotes aus der heimi-
schen Erde ziehen. Jm Laufe des letzten
Jahrhunderts hat England seine ganze
Existenz langsam der Jndustrie, dem Han-
del, der Handels- und Kriegsflotte, den
 
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