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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 2 (Novemberheft 1931)
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Böhm, Hans: Ein neues System der Weltgeschichte: zu Ligetis "Weg aus dem Chaos"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0165

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drikte und letzte Welle der Neuzeit mit dem „architektonischen" KlassizismuS und
schließt mit dem Jmpressionismus. — Jede Kultur umfaßt somit sieben solcher Wel-
len mit insgesamt etwa 1000 Jahren; Ligeti zeigt ein überall gleiches Bild des Ver-
lauss in der altägpptischen, griechisch-römischen, ostasiatischen und christlichen Kultur,
welch letztere er gio, mit der Gründung des Klosters Cluny, beginnen, um 1910—zo
zu Ende gehen läßt.

2. Große Bauwerke setzen eine Gemeinschast schassender Hände und Willen
voraus; das Gemälde wird von einem geschassen, von wenigen genossen: es ist
der Ausdruck des voll entwickelten, schließlich des anarchischen sschs; die Plastik
steht, nach Arbeitsbedingungen wie Wirkungen, zwischen beiden Künsten im Gleich-
gewicht — das eben darum nur kurz dauern kann. — Der jeweilige Zeitgeist, den
das Kunstwerk in solcher Weise abzulesen gestattet, äußert sich im StaatS-, Gesell-
schafts- und Wirtschaftsleben etwa so: „a r ch i t e k t o n i s ch" ist strasfe Ordnung,
Lehenswesen, Grundherrschaft, sparsamer Aufbau; „p l a st i s ch" ist glückliches
Ebenmaß zwischen den Ansprüchen der Gemeinschaft und deS Jndividuums, Blüte
des Handwerks, beginnende Geldwirtschaft; „m a l e r i s ch" ist die Ungebunden-
heit des Jchs, Vorherrschaft von Handel und Jndustrie, gem'eßsrisch-expansives
Leben, was dann in imperialistischen Unternehmungen zu Katastrophen zu führen
pflegt.

Z. Die Reihenfolge jener drei symbolischen Begrisfe erscheint aber nochmals im
Gesamtverlauf des mittelländischen Kulturkreises, indem „Ägypten von Grund aus
architektonisch, Griechenland und Rom im Wesen plastisch, das Abendland aber eigent-
lich, im großen gesehen, malerisch" ist. Dieser riesige Bogen, der „abendländische
Kulturbogen", alö Bauernkultur auf das Haustier gestützt, grenzt in der Ver-
gangenheit an die „im Kampf mit dem Tier" erwachsenen sfägerkulturen prähisto-
rischer Räume, nach der Zukunft hin an ein Zeitalter der Maschmenkultur, das
auf Grund noch unvorstellbarer technischer Entwicklung auf die Hilfe des HauS-
tiers verzichten wird.

f. Die Gegenwart, d. h. die Zeit seit 1900, deutet Ligeti als Zeit schrosfer Ab°
kehr vom „Iltalerischen" und des Hinwendens zu einer neuen „architektonischen"
Geisteshaltung. Sie kommt, wie immer (das weist er dem ökonomischen Matet-
rialismus datenmäßig nach), zuerst in der Kun st zu Worte (Primitivismus, Futu-
rismus usw.), während Staat, Gesellschaft und Wirtschaft noch weithin Züge des
„malerischen" LiberalismuS tragen. Erst wenn dessen Mächte: SpätkapitaliSmus
und Marrismus, untereinander und gegenüber dem Faschismus zum Ausgleich ge-
kommen sind, werden wir, in nicht zu ferner Zeit, den tiefsten Punkt der heutigen
„Mulde", des heutigen „Chaos", überwinden; nach allen geschichtlichen Analogien
steht dann zu erwarten die „große Konzeption" eines neuen Zeitalters der Askese,
des JdealismuS, der Gemeinschaft. —

Dies die Grundzüge des wahrhaft erstaunlichen Buches, das Wissenschaft, sfntuition
und Gesinnung in einem nicht alltäglichen Bunde zeigt. klber die Einzelheiten der
kunstwissenschaftlichen Aufstellungen und Ausfassungen zu urteilen fühle ich mich
nicht berufen, doch hat man überall den Eindruck gründlichen Wissens und be-
sonnener Wertungen, die im Zusammenhang und auf der Höhe des heutigen
StandeS der Kunstwissenschaft stehen. — Auf diesem Unterbau, den bis-
her noch niemand in solcher Weise benützt hat, erhebt sich das eigenckiche
System. (yndem es die Rhythmik der Einzelkulturen dem Bogen einer universalen
Bewegung einordnet, stellt es eine glückliche Synthese jener im Anfang skizzierten
Weltgeschichte-Bilder dar; und wenn man eine wissenschaftliche Hypothese nach
der Zahl und Bedeutung der gelösten oder plausibler gemachten Fragen bewertet,
so wird man dem Gedanken Ligetis einen hohen Wert zugestehen müssen: sofern
jene kunstgeschichtlichen Deutungen sich bewähren, haben wir in dem von ihm

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